Nächster Halt Peking: Kaum Zeit für Multisport-Olympioniken
13. September 2021Nur noch wenige Meter fehlten bis zur Ziellinie. Eine Konkurrentin lag vor ihr und führte das Rennen an. Das war der Moment, in dem Kendall Gretsch ihren Rollstuhl beschleunigte und einen der spektakulärsten Zieleinläufe der Paralympics in Tokio - vielleicht sogar der gesamten Para-Triathlon-Geschichte - hinlegte. Die 29-jährige US-Amerikanerin versetzte die Zuschauer in Erstaunen, als sie mit nur einer Sekunde Vorsprung die Goldmedaille gewann.
Einen Monat zuvor hatte ein anderer Athlet, Vincent De Haitre, ebenfalls ein beeindruckendes Ergebnis erzielt. Im Velodrom von Tokio war der 27-Jährige Teil des kanadischen Bahnradteams, das in der Verfolgung der Männer den fünften Platz belegte. "Wir waren das beste Team des letzten Jahrhunderts in der kanadischen Mannschaftsverfolgung der Männer", erzählt er stolz und mit einem Lächeln auf den Lippen im DW-Interview.
Beide Athleten verbrachten die letzten fünf Jahre mit der Vorbereitung auf die Spiele in Tokio. Und obwohl sie sich jetzt eigentlich eine wohlverdiente Pause gönnen könnten, ist das kein Thema für sie. Die beiden Multisportler wollen nun an den Olympischen Winterspielen und Paralympics 2022 in Peking teilnehmen.
In jedem olympischen Zyklus gibt es rund eine Handvoll Athleten, die sowohl an den Sommer- als auch an den Winterspielen teilnehmen. Normalerweise haben sie bis zu zwei Jahre Zeit, um sich auf die nächsten Spiele vorzubereiten - dieses Mal aber sind die Umstände anders. Aufgrund der COVID-19-Pandemie waren die Olympischen und Paralympischen Spiele 2020 um ein Jahr verschoben worden, so dass nun weniger als sechs Monate zwischen den Sommerspielen in Tokio und den Winterspielen in Peking liegen.
Die Olympischen Spiele in Tokio endeten am 8. August 2021, die Eröffnungsfeier in Peking steigt bereits am 4. Februar 2022. Zwischen den Paralympics liegt die gleiche Zeitspanne: Die Sommer-Paralympics endeten am 5. September 2021, die Winterspiele beginnen am 4. März 2022.
Den Übergang bewältigen
Weder Gretsch noch De Haitre schrecken vor dieser Herausforderung zurück. Beide haben bereits an Winterspielen teilgenommen, allerdings noch nie so kurz nach Olympischen Sommerspielen.
Gretsch, die im Sommer Para-Triathlon betreibt, wechselt im Winter zum Sitz-Langlauf und Sitz-Biathlon. Bei den Winter-Paralympics 2018 in Pyeongchang, Südkorea, gewann sie zwei Goldmedaillen. Mit dem jüngsten Gold in Tokio ist sie die dritte US-Amerikanerin in der Geschichte, die sowohl bei den Sommer- als auch bei den Winterparalympics Goldmedaillen holen konnte.
De Haitre hingegen tauscht, wenn die Temperaturen fallen, sein Fahrrad gegen Schlittschuhe. Er ging für Kanada sowohl in Sotschi 2014 als auch in Pyeongchang 2018 an den Start.
"Ich denke, die größte Herausforderung besteht darin, Verletzungen zu vermeiden", sagt er.
Ein sorgfältiger Übergang ist wichtig, denn obwohl die verschiedenen Sportarten Ähnlichkeiten aufweisen, erfordern sie doch unterschiedliche spezifische Kräfte und Bewegungen. Eine Überanstrengung, wenn die Muskeln und Sehnen noch nicht bereit sind, ist riskant.
"Die Übergänge zu meistern, ist wahrscheinlich der schwierigste Teil", erklärt Gretsch der DW. "Es geht um Ausgewogenheit und vielleicht darum, das Skifahren etwas leichter zu nehmen, weil die Muskeln noch nicht bereit sind", sagt die dreimalige Paralympics-Goldmedaillengewinnerin über ihre derzeitige Vorbereitung nach der Rückkehr aus Japan.
In den fünf Jahren vor Tokio trainierten beide Athleten nicht nur Radfahren bzw. Paratriathlon, sondern konzentrierten sich zeitgleich auch auf ihre jeweiligen Wintersportarten. Das bedeutete eine Aufteilung der Zeit auf verschiedene Orte.
Für den Kanadier De Haitre war es Calgary zum Radfahren und Toronto zum Eisschnelllaufen. Gretsch hingegen, die in Colorado lebt, zieht im Winter nach Montana. Bei den Vorbereitungen kommt es auch darauf an, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Sportkreisen abstimmen.
"Ich habe zwei verschiedene Trainer und zwei verschiedene Teams. Sie arbeiten alle großartig zusammen und versuchen, das richtige Gleichgewicht zu finden", erläutert die US-Amerikanerin Gretsch.
Neben den körperlichen Herausforderungen gibt es auch einen mentalen Aspekt zu bewältigen. "Ich bin an die körperlichen Vorbereitungen gewöhnt, aber die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele ist auch eine große mentale Belastung, so intensiv ist sie", so Gretsch weiter.
'Es gibt nur wenige Leute, die das geschafft haben'
Die Entscheidung, in mehreren Sportarten anzutreten, ist zusätzlich schwierig, weil weitaus die meisten Konkurrentinnen und Konkurrenten ihre ganze Energie nur einer Sportart widmen. Dennoch können sich sowohl De Haitre als auch Gretsch nicht für eine entscheiden.
Auf die Frage, ob sie einen Favoriten haben, antwortete De Haitre lächelnd: "Das kommt auf den Tag an." Gretsch antwortete: "Diese Frage kann ich nie beantworten. Ich mache einfach beides so gerne." Aber eines ist sicher: Um in zwei Sportarten auf olympischem und paralympischem Niveau gut genug zu sein - so gut wie es nur geht - braucht man Motivation.
"Es ist etwas Besonderes, sagen zu können, dass ich beides gemacht habe", sagte De Haitre. "Es gibt nur wenige Leute, die das geschafft haben, und es ist schön, zu dieser Gruppe zu gehören". Trotz der knappen Übergangszeit denken beide Teilnehmer, dass sie für die kommenden Winterspiele in Peking bereit sind. "Ich erwarte, dass ich wieder auf das Niveau zurückkomme, das ich hatte. Ich wurde in meinem Team als potenzieller Medaillenkandidat gehandelt", sagt der kanadische Radfahrer und Eisschnellläufer. "Ich möchte auf jeden Fall an meine Ergebnisse in Pyeongchang anknüpfen", betont Gretsch ihrerseits.
Aus dem Englischen übersetzt von Calle Kops