Der Mann, der Rechtsgeschichte schrieb
9. April 2023Dieser Mann hat im doppelten Sinn Geschichte geschrieben - als US-Soldat spürte der junge Ben Ferencz wichtiges Beweismaterial für den Nürnberger Prozess auf. Ohne seinen juristischen Zufallsfund hätte es die US-Anklage schwer gehabt, der Nazi-Führungsriege 1945 den Prozess zu machen.
Als Jurist setzte sich Ferencz später mit großer Leidenschaft für die Gründung eines Internationalen Strafgerichtshofs ein - was ihm schließlich auch gelang. Auf seine beharrliche Initiative geht die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag im Jahr 2002 zurück, vor dem bis heute Kriegsverbrechen geahndet und sogar Staatschefs juristisch zur Rechenschaft gezogen werden können.
Kriegseinsatz in Europa
Seine Zeit als Soldat in der US-Armee begann trostlos: Der belesene Harvard-Absolvent, der sein Jura-Studium einem Stipendium für Hochbegabte zu verdanken hatte, fing als Schreibkraft in Camp Davis im US-Bundesstaat North Carolina an. Zu dem Zeitpunkt konnte er weder Schreibmaschine schreiben, noch ein Gewehr abfeuern. Klo putzen sowie Töpfe und Böden schrubben gehörten zum Dienst dazu.
Im Frühjahr 1944 wurde es für den jungen Benjamin Ferencz ernst: Seine Kampfeinheit wurde im Zweiten Weltkrieg nach England verlegt. Am 6. Juni 1944, dem berühmten D-Day, sprang US-Soldat Ferencz zusammen mit seinen Kameraden vom Landungsboot an den Omaha Beach der nordfranzösischen Küste. Die Invasion der Alliierten in der Normandie hatte begonnen - der Anfang vom Ende der Nazi-Vorherrschaft über Europa.
Beim Vormarsch der US-Truppen durchbrach Ferencz mit seiner Einheit den Westwall der Nazis, kämpfte bei der Ardennenoffensive an vorderster Front und überquerte am Ende des Vormarsches im Frühjahr 1945 mit den siegreichen Amerikanern die Brücke von Remagen über den Rhein.
Im Hauptquartier der 3. US-Armee von General Patton wurden nach Kriegsende juristisch erfahrene Leute gesucht, um Beweismittel für die Kriegsverbrechen der Nazis zu sichern. Der junge Jurist Ferencz bekam endlich den Job, der seinen Fähigkeiten gerecht wurde.
Mit kriminalistischem Spürsinn durchkämmte Ben Ferencz mit seinem Team systematisch NS-Behörden, Schreibstuben der SS und besuchte die von der US-Armee befreiten Konzentrationslager. Was er in Buchenwald, Dachau, Mauthausen und anderen Lagern vorfand, überstieg seine Vorstellungskraft von den grausamen Verbrechen und Mordmaschinerien der Nazis.
Erste Haftbefehle gegen Nazi-Führer
"Wichtig war, die Beweise, die Listen der Häftlinge, die Namen der Lagerleitung und der Verantwortlichen bei der SS zu sichern", erzählte Ferencz in seinen Erinnerungen ("Sag immer Deine Wahrheit", 2020). "Auf dieser Grundlage stellten wir Haftbefehle aus, um die Personen festzusetzen. Wir sicherten alle Beweismittel und fuhren direkt zum nächsten Lager."
Unterwegs trafen sie auf Einheiten der Roten Armee, die kurzen Prozess mit aufgegriffenen SS-Offizieren machten. In dem Moment wurde dem Juristen in Uniform klar, dass es ihm - dem Sohn emigrierter ungarischer Juden - nicht um Rache und Vergeltung ging, sondern um Gerechtigkeit.
Den ersten Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes, der am 20. November 1945 begann, erlebte er nur als Zuschauer mit. Seine Rückreise ins zivile Leben in den USA war schon geplant. "Bei Prozessbeginn waren die Reihen dicht gedrängt voll. Das Publikum saß oben auf der Empore. Aber im Verlauf des Prozesses leerten sich die Ränge. Die Deutschen zeigten kaum mehr Interesse."
"Wir durchsuchten alle Nazi-Archive"
Zurück in Amerika war der frühere US-Soldat erstmal arbeitslos, keine Kanzlei wollte ihm einen Fall anvertrauen. Ein Telegramm aus dem Pentagon beorderte ihn überraschend zu General Telford Taylor, ein ausgezeichneter Jurist und von US-Präsident Truman persönlich als Verantwortlicher für die Nürnberger Nachfolgeprozesse eingesetzt. Taylor berief den kriegserfahrenen Ferencz in seine Einsatztruppe für "Germany".
"Die USA fanden, dass der Nürnberger Prozess gegen die 22 Top-Nazis nicht vollständig klären konnte, wie sowas in einem zivilisierten Land wie Deutschland hatte geschehen können", erinnert sich Ferencz in dem Dokumentarfilm "A man can make a difference" (2015). "Die erste Aufgabe, die ich von Taylor bekam, war nach Berlin zu gehen und dort Beweise für die ungeheuren Nazi-Verbrechen zu sammeln."
Hauptsitz der zentralen US-Ermittlungsstelle wurde die kriegszerstörte Hauptstadt. Groß-Berlin war inzwischen von den vier Besatzungsmächten - USA, Großbritannien, UdSSR und Frankreich - in getrennte Sektoren aufgeteilt worden. Jeder hatte seine eigenen Strafverfolgungsmethoden.
Ben Ferencz und sein 50-köpfiges Ermittler-Team bekamen freie Hand, stellten Unmengen von Dokumenten und Belastungsmaterial der umfangreichen NS-Bürokratie sicher. Vor allem die Berliner Gestapo-Zentrale erwies sich als Hort deutscher Gründlichkeit. "Eine juristische Goldgrube", nannte Ferencz das.
Chefankläger im "Einsatzgruppen-Prozess"
Im Frühjahr 1947 stieß ein Mitarbeiter in den Aktenschränken des Auswärtigen Amtes auf drei dicke Aktenordner, beschriftet mit "Ereignismeldungen aus der UdSSR - Berichte von der Ostfront". "Es waren Berichte von SS-Spezialeinheiten, getarnt durch einen scheinbar bedeutungslosen Namen: Einsatztruppen. Niemand wusste, was das war", erinnerte sich Ben Ferencz später. Die politische Brisanz des Fundes erkannte er sofort: "Das sah harmlos aus, aber innen war es mit dicken Stempeln als 'Geheime Reichssache' gekennzeichnet."
Diese Beweisstücke waren das juristische Fundament für einen der größten Mordprozesse der Geschichte: Am 15. September 1947 hielt Ben Ferencz sein Eröffnungsplädoyer. Mit 27 Jahren war er der jüngste Chefankläger des "Einsatzgruppen-Prozesses", dem ersten der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse, die von den Vereinigten Staaten allein weitergeführt wurden.
Idee für einen Internationalen Strafgerichtshof
Für Ferencz, der als Sohn jüdischer Eltern 1920 in den Karpaten geboren worden war und in großer Armut in New York aufwuchs, waren diese Erfahrungen in Nachkriegs-Deutschland prägend. Als Bevollmächtigter der Jewish Claims Conference setzte er sich später unermüdlich für das Wiedergutmachungs-Abkommen zwischen Israel und der Bundesrepublik ein, das 1952 in Luxemburg unterzeichnet wurde. Und er vertrat juristisch die Ansprüche von Zwangsarbeitern, vor allem aus Osteuropa, die die Nazis versklavt und ausgebeutet hatten.
2010 bekam Benjamin Ferencz für seinen lebenslangen Einsatz für das Völkerrecht im Auswärtigen Amt in Berlin das Große Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland überreicht. Aber seine wohl wichtigste Ehrung erhielt er in Nürnberg, der Stätte seiner ersten juristischen Erfolge: Als Videobotschaft eröffnete seine persönliche Rede die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Nürnberger Prozesses am 20. November 2020. Erst nach ihm sprach der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Nun ist der Mann, der Rechtsgeschichte schrieb, mit 103 Jahren gestorben.