"Niemand kann es sich leisten, untätig zu bleiben"
21. Juli 2021Für Amitav Ghosh ist die Natur ein wichtiger Teil des Geschichtenerzählens. Seine Romane spielen häufig in den Sundabans, den größten Mangrovenwädern der Welt, die im Golf von Bengalen östlich des indischen Subkontinents liegen: Von "Der Glaspalast" (2006) über "Hunger der Gezeiten" (2006) und "Das mohnrote Meer" (2009) bis hin zu seinem neusten Buch, "Jungle Nama" (2021).
Der indische Autor, dessen Familie aus Bangladesch stammt, hat New York zu seiner Heimat gemacht. Die Sundabans und ihr fragiles Ökosystem, wo heute noch Tiger und viele weitere seltene Arten von Tieren und Pflanzen leben, drohen von der globalen Erderwärmung zerstört zu werden.
Das mag einer der Gründe dafür sein, dass Ghosh die Klimakrise und die aus ihr resultierenden Naturkatastrophen nicht mit Gleichmut betrachtet: Gerade Überschwemmungen suchen regelmäßig die Länder auf und um den indischen Subkontinent heim. In einem Telefongespräch mit der Deutschen Welle äußert sich Amitav Ghosh zur Berichterstattung über die Flutkatastrophe in Deutschland: "Eine Frau sagte: 'Wissen Sie, man erwartet einfach nicht, dass so etwas in Deutschland passiert. Man kennt das nur aus ärmeren Ländern.'" Das zeige ihm, so der Autor, dass die Menschen noch immer nicht verstanden hätten, dass es den Klimawandel wirklich gibt.
Den Klimawandel gibt es wirklich
"Was hier auf gewisse Weise klar wird, ist, dass wir einer Zeit leben, in der wir unsere Erwartungen aus der Vergangenheit nicht mehr an die Gegenwart anlegen können", so Ghosh. "Zum Beispiel wird oft gesagt, dass Wohlstand und eine gute Infrastruktur Menschen vor schrecklichen Naturkatastrophen bewahren werden. Es zeigt sich immer mehr, dass das nicht der Fall ist." Dazu führt er noch ein weiteres Beispiel an: die Waldbrände im Norden Kaliforniens - auch das eine der wohlhabendsten Regionen der Welt.
Ghosh weist darauf hin, dass sich die Effekte des Klimawandels nicht auf Naturkatastrophen beschränken. Auch die kalifornischen Winzer, die sich darüber beschweren, dass der Rauch der Brände ihre Trauben angreift und ihnen so die Lebensgrundlage nimmt, seien vom Klimawandel betroffen. Die Geschichtenerzähler müssten dieser Krise Rechnung tragen, so der Schriftsteller. Seitdem er im Jahr 2016 das Sachbuch "Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare" veröffentlichte, beteiligt er sich öffentlich an der Debatte um die Klimakrise und die Rolle der Literatur.
Wenn das Leben die Kunst nachahmt
In den letzten Jahrzehnten haben sich viele wichtige Romane mit der Klimakrise beschäfigt. Ein früher Mahner war der australische Autor George Turner, dessen Roman "Sommer im Treibhaus" 1991 bei Suhrkamp erschien und den wichtigsten Science-Fiction-Preis der Welt gewann, den Arthur C. Clarke-Award. Seit dem Jahr 2000 sind unter den anglophonen Autoren auch Barbara Kingsolver mit "Das Flugverhalten der Schmetterlinge" (2014) und Margaret Atwood mit "Oryx and Crake" (2003) sowie dessen Nachfolger "Das Jahr der Flut" (2009) hinzugekommen, um nur einige zu nennen. Auch der Roman "Gun Island", den Amitav Ghosh 2019 veröffenlichte, gehört dazu. Er beschäftigt sich mit dem Klimawandel und der Bedrohung von Fischen durch chemische Abfälle in den Sundabans.
Trotzdem betrachtet Ghosh die aktuelle Literatur, die sich um die globale Erwärmung dreht, kritisch. Diese Art von Literatur wird häufig als "eco fiction", "climate fiction", oder "cli-fi" bezeichnet. Ihn stört daran, dass diese Romane Naturkatastrophen und die Klimakrise oft in der Zukunft verorten - dabei seien sie Phänomene der Gegenwart. "Ich habe wirklich ein Problem mit diesen Genres, mit dieser Art von Literatur", so Ghosh. "Darin wird unsere Realität so behandelt, als sei sie nicht wahr. Man projiziert sie in die Zukunft, man verwandelt sie in eine Fantasy-Geschichte."
Hurrikane "Sandy" 2012
Auch hier führt der Autor ein Beispiel an: "Im Jahr 2012 suchte ein schrecklicher Wirbelsturm New York City heim, der Hurrikane 'Sandy'. Er zerstörte Teile der Stadt. Und hier leben so viele Schriftsteller, Dichter, Filmemacher, Künstler, aber niemand beschäftigt sich mit dem Hurrikane 'Sandy'. Stattdessen existieren Unmengen von Büchern über ein New York in einer fernen Zukunft, das überflutet worden ist." Ghosh wirft die Frage auf, ob das nicht darauf hinweist, dass die Menschen die Augen vor der Wahrheit verschließen.
"Wie auch die Überschwemmungen in Deutschland zeigen, sind solche Naturkatastrophen für die Menschen in unserer Gegenwart völlig überwältigend, auch überfordernd", so Ghosh. "Sie sagen, dass das unglaublich sei, dass sie es nicht glauben könnten, dass so etwas noch nie passiert sei. Und genau das ist es ja, worum es geht: Es geht darum, dass es nicht bloß unglaublich ist, sondern dass es real ist, dass es uns wirklich heute passiert."
Ghosh ist der Ansicht, dass der Westen die aktuelle Klimakrise verursacht hat: und zwar durch Kolonialismus, die Industrialisierung und die daraus resultierende Erschaffung einer weltweiten Konsumgesellschaft, die stets wirtschaftliches Wachstum anstrebt. Diese Entwicklungen hätten es den westlichen Industriegesellschaften ermöglicht, die internationale Politik zu dominieren und andere Kulturen - zum Beispiel im globalen Süden - zu missachten. "Der Westen ist isoliert, durch seine unglaubliche Arroganz und seine Überheblichkeit. Er muss wirklich damit anfangen, vom Rest der Welt zu lernen", sagt der Autor.
Die "Arroganz" des Westens
In Bangladesch finden jedes Jahr schwere Überschwemmungen statt, wenn der Padma - der Ganges in Bangladesch - während der Monsunregefälle über seine Ufer tritt. "Aber nur sehr wenige Menschen sterben dabei, denn sie wissen, wie gefährlich Überschwemmungen sind." Durch die immer häufigeren Naturkatastrophen sei inzwischen klar geworden, dass die gesamte Menschheit im selben Boot sitzt, was die Klimakrise betrifft, fährt Ghosh fort. Seiner Meinung nach würden viele Staaten dieser Wahrheit aber noch nicht ins Auge sehen.
"Ich hoffe, dass eine Lektion aus dieser schrecklichen Tragödie in Deutschland gezogen wird", sagt der Autor. "Niemand kann es sich leisten, untätig zu bleiben. Alle Menschen auf diesem Planeten sehen sich derselben Katastrophe gegenüber. Man kann nicht erwarten, dass man geschützt ist, nur weil man in einem wohlhabenden Land lebt."
Adaptiert aus dem Englischen von Christine Lehnen