Alle 14 Achttausender
27. April 2010Die Südkoreaner konnten es live im Fernsehen verfolgen. Oh Eun-Sun steckte eine südkoreanische Flagge in den Schnee auf den Gipfel der 8091 Meter hohen Annapurna in Nepal. Die 44-Jährige hat es als erste Frau geschafft, alle Achttausender zu besteigen. Ein erster Gipfelversuch am vergangenen Wochenende war noch wegen starken Windes gescheitert. Bei ihrem Aufstieg zum höchsten Punkt wurde Oh von zwei Kameramännern und drei Sherpas begleitet. "Ich bin so glücklich", sagte die Bergsteigerin am Gipfel. "Nun komme ich nach Hause."
Oh vollendete damit ihr "Projekt 14", das sie seit 2007 mit Nachdruck verfolgt hatte. Bis dahin war die Koreanerin selbst den Kennern der Szene kaum ein Begriff. Vier Achttausender hatte sie bis dahin bestiegen. Drei Europäerinnen lagen deutlich vor ihr, die Österreicherin Gerlinde Kaltenbrunner, die Spanierin Edurne Pasabán und die Italienerin Nives Meroi.
Gipfel abhaken
Doch dann wurde der Kampf um die Achttausenderkrone zum Prestigeobjekt Südkoreas. Mit Oh Eun-Sun und Go Mi-Sun wurden gleich zwei Bergsteigerinnen ins Rennen geschickt. Fragen des Stils, etwa der von den Europäerinnen praktizierte Verzicht auf Flaschensauerstoff, spielten für die Koreanerinnen keine Rolle. Es ging nur darum, in kürzester Zeit so viele Achttausender abzuhaken wie möglich. Mit großen Teams rückten Oh und Go den Bergen auf den Pelz. Sie ließen sich ihr Material von Sherpas Richtung Gipfel tragen und setzten teilweise Atemmasken ein. Um Zeit zu sparen, flogen sie mit Hubschraubern von einem Basislager zum nächsten. "Ich habe einen Job zu erledigen", meinte Oh lakonisch.
Tod am Nanga Parbat
Die Südkoreanerinnen holten im Wettlauf um die Achttausender-Krone auf. Im Frühjahr 2009 bestieg Go Mi-Sun innerhalb von sechs Wochen drei Achttausender, im Sommer desselben Jahres wollte sie drei weitere folgen lassen. Doch sie zahlte den höchsten Preis für ihren waghalsigen Wettlauf. Am Nanga Parbat stürzte die 41-Jährige ab. Es wäre Gos elfter Achttausender gewesen. Oh Eun-Sun ließ sich vom Tod ihrer Landsfrau nicht beeindrucken. Allein 2009 bestieg sie mit dem Kangchendzönga (8586 Meter), dem Dhaulagiri (8167 Meter), dem Nanga Parbat (8125 Meter) und dem Gasherbrum I (8080 Meter) vier Achttausender.
Zweifelhaftes Gipfelfoto
Zweifel und Kritik kamen auf. Am Kangchendzönga, dem dritthöchsten Berg der Erde, hatte Oh ein unscharfes Gipfelfoto vorgelegt, das als Beweis, dass sie wirklich den höchsten Punkt erreichte, kaum taugte. Die Spanierin Edurne Pasabán, die 2009 ebenfalls am "Kantsch" war, sagte jetzt, ein Sherpa aus Ohs Team habe ihr anvertraut, dass die Koreanerin den Gipfel gar nicht erreicht habe. Am Gasherbrum I in Pakistan wollte ein französischer Bergsteiger gesehen haben, wie sich die Koreanerin am kurzen Seil von einem Sherpa den Berg hinaufziehen ließ. Oh beteuert, dass bei ihren Besteigungen alles mit rechten Dingen zugegangen sei und spricht von einer "Kampagne" gegen sie.
Nicht mit Messner zu vergleichen
Zuletzt hatte es ausgesehen, als könne Edurne Pasabán der Südkoreanerin noch einen Strich durch die Rechnung machen. Erstmals setzte auch die Baskin Hubschrauber ein, um möglichst schnell zum Basislager zu kommen. Am 17. April bestieg Pasabán die Annapurna, ihren 13. Achttausender. Damit fehlte der Baskin in ihrer Sammlung nur noch die Shishapangma (8027 Meter) in Tibet. Doch Oh war schneller. Gleich der erste Gipfelversuch an der Annapurna war erfolgreich. Die Koreanerin hatte Pasabán übrigens gefragt, ob es ein Problem sei, wenn sie die Fixseile benutze, die von der Baskin und ihrem Team gelegt worden waren. Pasabán hatte nichts dagegen.
Der Südtiroler Reinhold Messner hatte es 1986 als erster Mensch geschafft, alle 14 Achttausender zu besteigen. Im Gegensatz zu Oh Eun-Sun verzichtete Messner stets auf Flaschensauerstoff und war fast immer in kleinen Teams auf neuen, schwierigen Routen unterwegs. Nach Messner komplettierten 18 weitere Männer ihre Achttausender-Sammlung, darunter 2009 auch Ralf Dujmovits als erster und bisher einziger deutscher Bergsteiger.
Autor: Stefan Nestler
Redaktion: Arnulf Boettcher