O. Grjasnowa: "Der Russe ist einer, der Birken liebt"
9. Oktober 2018In ihrem Debütroman zeichnet Olga Grjasnowa das Porträt einer modernen jungen Frau, die planlos und wütend gegen ihre seelischen Verletzungen ankämpft – und sich trotzig ihren Platz im Leben erobert.
Mascha, die Hauptfigur in Grjasnowas Roman, ist ein "Kontingentflüchtling", wie es im Behördendeutsch heißt. "Ich liebe diesen merkwürdigen Ausdruck", sagt die Schriftstellerin. Ihr habe die deutsche Bürokratie oft weitergeholfen. Die Eltern von Romanheldin Mascha dagegen scheitern daran.
"Deutschland hatte für meinen Vater keine Verwendung. In seinem sozialen Sibirien trug er Jogginghose und Feinrippunterhemden, die im englischen 'wife beater' hießen, was allerdings nichts mit ihm zu tun hatte. Vater hatte aufgegeben, von einem Tag auf den anderen. Er freundete sich nicht mit anderen Menschen an, ging kaum aus dem Haus, nur manchmal, um an den Tankstellen die Benzinpreise zu vergleichen."
Radikale Widersprüchlichkeit
Nicht alles ist autobiografisch in ihrem ersten Roman, aber vieles weist – leicht verfremdet – Parallelen zu Olga Grjasnowas Biografie auf. Als sie, das Flüchtlingskind aus Aserbaidschan, mit elf Jahren eingeschult wird, kann sie kaum ein Wort Deutsch, nur "Hände hoch", das kennt sie aus sowjetischen Kriegsfilmen. Ihr Abitur macht Grjasnowa mit ausgezeichneten Noten, später studiert sie "Literarisches Schreiben" am renommierten Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.
Auch ihre Protagonistin Mascha – eine junge Frau Mitte zwanzig, die sich schnell verliebt und niemandem traut – hat schon als Kind gelernt, dass Sprache Macht bedeutet. Ihr Weg aus der Sprachlosigkeit der Migranten ist ein exzellent absolviertes Dolmetscher-Studium. Mit dem Diplom in der Tasche steht ihr die Welt offen: Sie spricht fünf Sprachen fließend und ein paar gerade so "wie die Ballermann-Touristen deutsch", erklärt sie lachend ihrem deutschen Freund.
Mascha ist eine typische Vertreterin der "Generation Praktikum": Ehrgeizig und gut ausgebildet. Sie will ganz nach oben, will Sinnvolles tun und bei einer internationalen Institution wie der UN arbeiten. Aber das Leben entscheidet anders. Nach dem plötzlichen Tod ihres Freundes, der eine Sepsis nicht überlebt, bricht ihre mühsam konstruierte, kleine Welt zusammen.
Völlig überstürzt reist die junge Frau nach Israel, um ihren ersten Job in Tel Aviv anzutreten. Am Flughafen wird ihr Laptop von schwer bewaffneten Soldaten konfisziert, sie gerät als Ausländerin ins Visier.
"Jedes Kleidungsstück, jeder Schal, jede Unterhose wurden auseinandergefaltet, sämtliche Dosen aufgeschraubt, selbst meine elektrische Zahnbürste wurde auf Sprengstoff getestet. Dass ich kaum Kleidung, dafür aber viele Wörterbücher dabeihatte, weckte Misstrauen."
Ihre zunehmende Verzweiflung macht sie kopflos. Nach einem Besuch bei ihren jüdischen Verwandten, die nach Israel ausgewandert sind, holt die Vergangenheit Mascha wieder ein: Bilder von Pogromen in ihrer Heimat Aserbaidschan, die sich ihr tief eingebrannt haben. Ihre Angst vor Nähe wächst sich zur Paranoia aus.
Literarische Stimme ihrer Generation
Geboren ist Olga Grjasnowa 1984 in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, aufgewachsen ist sie im Kaukasus. Sie gehört zu den 200.000 jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die seit 1991 in die Bundesrepublik einreisen durften. 1996 kam sie mit ihrer Familie in Deutschland an, im Übergangslager Friedberg. Die Eingewöhnung war schwierig.
Grjasnowa spricht fließend russisch und inzwischen mehrere Sprachen. Aber schreiben kann sie nur auf Deutsch, sagt sie. Ihr Debütroman wurde 2012 auf Anhieb ein Bestseller. Mit ihrer unprätentiösen Sprache habe sie den Nerv ihrer Generation getroffen, schrieben die Literaturkritiker enthusiastisch.
Heute ist sie Mitglied im PEN Deutschland und eine anerkannte Schriftstellerin. Ihren Lebensmittelpunkt hat sie in Berlin-Neukölln gefunden.
Olga Grjasnowa: "Der Russe ist einer, der Birken liebt" (2012), Hanser Verlag
Geboren ist Olga Grjasnowa 1984 in Baku, der Hauptstadt von Aserbeidschan. Die Mutter ist Klavierlehrerin, der Vater Anwalt. 1996 trafen sie als Flüchtlingsfamilie in Deutschland ein und wohnten anfangs in einem Asylbewerberheim. Grjasnowa ging später in Frankfurt/Main zur Schule. Sie absolvierte das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig und sammelte bei Studienaufenthalten in Polen und Israel polyglotte Erfahrungen. Ihr Erstlingsroman war ursprünglich als Bachelorarbeit geplant. Das Buch war auf Anhieb ein sensationeller literarischer Erfolg.