1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Kampf um Gerechtigkeit für die Opfer von München

Felix Tamsut
29. August 2022

Seit 50 Jahren kämpfen Ilana Romano und Ankie Spitzer im Namen der Familien der Opfer des Olympia-Attentats von München für Gerechtigkeit. Ihre Kraftquelle ist ihre Freundschaft, ihr Ziel haben sie noch nicht erreicht.

https://p.dw.com/p/4G9qE
Ein Steinmetz bearbeitet die Gedenktafel für die bei den Olympischen Spielen in München 1972 ermordeten israelischen Sportler
Gedenktafel für die bei den Olympischen Spielen in München 1972 ermordeten israelischen Sportler Bild: Wolfgang Rattay/REUTERS

In der Wohnung von Ilana Romano in Tel Aviv scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Im Wohnzimmer sind Schwarz-Weiß-Fotos verteilt, die Möbel sind die eines typischen israelischen Haushalts aus den 1970er Jahren - nur der Flachbildfernseher erinnert daran, dass wir das Jahr 2022 haben. In vielerlei Hinsicht ist die Einrichtung symbolisch für das Leben von Ilana Romano und Ankie Spitzer. Am 5. September vor 50 Jahren änderte sich ihr Leben drastisch, als Ilanas und Ankies Ehemänner, Yosef und Andre, bei dem Terroranschlag bei den Olympischen Spielen 1972 in München ermordet wurden.

Seitdem sind die beiden Frauen zu einem Symbol für den Konflikt zwischen den Familien der Opfer und der deutschen Regierung im Ringen um die Entschädigung für den Tod ihrer Angehörigen geworden. Zum Zeitpunkt des Anschlags waren Ilana Romano und Ankie Spitzer 26-jährige junge Mütter, wobei Ankies erstes Kind wenige Monate vor den Münchner Spielen geboren wurde. Nach dem Schock des Verlusts ihrer Ehemänner sind beide von den Erklärungen der deutschen Behörden nicht überzeugt und nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Ein halbes Jahrhundert haben sie seitdem Informationen gesammelt, mit den Medien gesprochen und versucht, eine Verbindung zwischen den einzelnen Punkten herzustellen, um zu verstehen, was wirklich passiert ist. Und um eine ihrer Meinung nach gerechte Entschädigung für das Fehlverhalten der deutschen Regierung zu erhalten. 

"Es war kein Traum, sondern pure Realität"

"Es klopfte an meiner Tür, es war sieben Uhr morgens", erinnert sich Romano. Es war ihre Nachbarin, die ihr sagte, sie solle das Radio einschalten. "Es hat einen Terroranschlag gegeben." Bevor er zu den Spielen reiste, hatte ihr Ehemann, der Gewichtheber Yossef, genannt Yossi, sie noch beruhigt, als sie Bedenken wegen der Reise äußerte. "Wenn die Deutschen etwas machen, dann machen sie es perfekt", sagte er zu ihr. 

Attentat Olympiade 1972 | Witwen Ilana Romano und Ankie Spitzer
Die Witwen Ilana Romano (li.) und Ankie Spitzer kämpfen seit 50 Jahren um AnerkennungBild: Norbert Schmidt/IMAGO

Später an diesem Tag erfuhr Ilana Romano, dass ihr Mann das zweite Opfer des Terroranschlags geworden war. Die Geiselnehmer hatten ihn bei der Erstürmung der Wohnung im Olympischen Dorf angeschossen und einfach verbluten lassen. "Ich bin am nächsten Morgen aufgewacht und habe mich gefragt, ob das alles nur ein Albtraum war. Es war kein Traum, sondern die pure Realität", sagt sie. Auch 50 Jahre später hat sie einen schmerzerfüllten Ausdruck im Gesicht, während die Worte nachhallen.

"Wir wollten nicht getrennt sein"

Ankie Spitzer befand sich in ihrer Heimat, den Niederlanden, als der Anschlag verübt wurde, dem ihr Mann, der Fechttrainer Andre Spitzer, zum Opfer fiel. Die beiden waren zwei Monate zuvor Eltern einer Tochter geworden. "Bevor ich mit meinem Baby zu meinen Eltern reiste, fuhr ich für zwei Wochen nach München, um Andre zu besuchen", sagt Spitzer. "Wir waren nur ein Jahr und drei Monate verheiratet. Wir waren verliebt, wir wollten nicht getrennt sein."

Da ihre Tochter Anouk krank war, reiste Andre sogar noch einmal in die Niederlande, um bei ihr zu sein, und kehrte erst in der Nacht vor dem Anschlag ins Olympische Dorf zurück. "Meine Eltern haben mich um sieben Uhr geweckt und mir gesagt, dass es einen Anschlag gegeben hat." Stunden später erfuhr sie, dass ihr Mann eine der Geiseln war. Ankie sah ihn ein letztes Mal lebend im Fernsehen, als er während der Verhandlungen der Geiselnehmer durch ein Fenster der Wohnung in der Connollystraße 31 in München zu sehen war und diese mit Vertretern der deutschen Behörden sprachen - eine Szene, die von Millionen Menschen auf der ganzen Welt verfolgt wurde.

Ankie Spitzer steht am 09.09.1972 in dem verwüsteten Raum des Münchner Olympischen Dorfes
Ankie Spitzer steht am 09.09.1972 in dem verwüsteten Raum des Münchner Olympischen DorfesBild: dpa/picture alliance

"Ich habe meinen Eltern gesagt, dass Andre mich als erstes anrufen würde, wenn er frei ist. Dieser Anruf kam nie." In der Nacht zum 6. September um 3:15 Uhr erhielt sie die Nachricht: Alle israelischen Geiseln waren beim Befreiungsversuch auf dem Militärflughafen Fürstenfeldbruck bei München getötet worden. "Ich erinnere mich, dass ich nach München zurückkehrte, und auf dem Weg zum Olympischen Dorf sah ich auf beiden Seiten der Straße Athleten trainieren", erinnert sie sich. "Als ob nicht gerade elf Mitglieder ihrer olympischen Familie ermordet worden wären. Es war furchtbar."

Der Kampf beginnt

Einen Monat nach dem Terroranschlag in München trafen sich die beiden Witwen. "Wir fühlten beide dasselbe und wollten die Wahrheit wissen", erinnert sich Spitzer. Ihnen gegenüber standen zwei mächtige Organisationen: die Bundesrepublik Deutschland und das Internationale Olympische Komitee (IOC). Die beiden Frauen forderten unter anderem die Öffnung der Archive Bayerns und der Bundesrepublik Deutschland, um die Geschehnisse aufzuklären, eine Entschädigung zu erwirken und sicherzustellen, dass das IOC die Opfer anerkennt und ihrer gedenkt.

Sie hangelten sich von Gericht zu Gericht, von Politiker zu Politiker. Eine Einigung wurde aber bis heute nicht erzielt. In einem Dokument, das den Familien von der deutschen Botschaft in Tel Aviv ausgehändigt wurde und das die DW einsehen konnte, wird die Verantwortung Deutschlands für die Ermordung der Sportler anerkannt. Darin wird auch das jüngste Angebot Deutschlands an die Familien der Opfer aufgeführt: Die Zahlung von weiteren 5,4 Millionen Euro zusätzlich zu den bereits gezahlten 4,6 Millionen Euro. Die Familien wollen jedoch neun Millionen Euro pro Opfer.

Mitglieder der Bereitschaftspolizei stehen am Flugzeug, das die drei Terroristen nach Zagreb fliegen soll
Mitglieder der Bereitschaftspolizei stehen am Flugzeug, das die drei Terroristen nach Zagreb fliegen sollBild: Klaus-Dieter Heirler/picture-alliance/dpa

Die Summe ist symbolisch, da die Terroristen, die den Anschlag in München überlebt hatten, nach der Entführung einer Lufthansa-Maschine freigelassen wurden. Die Entführer hatten ihre Freilassung im Austausch gegen die von ihnen festgehaltenen Geiseln gefordert. Abu Daoud, der Planer des Schwarzen Septembers, schrieb in seiner Autobiographie, Deutschland habe seiner Organisation neun Millionen Dollar (9,01 Millionen Euro) angeboten, um eine Lufthansa-Maschine zu entführen und die Freilassung der Münchner Terroristen zu fordern. Deutschland bestritt jedoch, mit den Terroristen zusammengearbeitet zu haben. "Die deutsche Regierung hat uns 50 Jahre lang gequält. Sie hören nie auf zu lügen und uns zu demütigen", sagt Spitzer. "Wir wollen nur wissen, was mit meinem Mann und den anderen passiert ist. Wir haben keine Antworten erhalten."

"Es geht um viel mehr als nur um Geld"

Während der Kampf um Gerechtigkeit und Entschädigung weitergeht, haben die Familien der Opfer beschlossen, die offizielle deutsche Gedenkfeier 50 Jahre nach dem Anschlag zu boykottieren. Das Israelische Olympische Komitee erklärt, es stehe hinter den Familien und werde sich dem Boykott anschließen. Sowohl Romano als auch Spitzer sind sich bewusst darüber, dass einige Menschen in Deutschland argumentieren werden, dass es bei ihrem Beharren um Geldgier geht. "Geld ist nur Geld", sagt dagegen Romano. "Aber bei dem, was Deutschland uns angetan hat, geht es um viel mehr als um Geld."

Genauer gesagt, geht es darum, dass die Kinder der Opfer ohne ihren Vater aufwachsen, der damals der Hauptversorger der Familie war. "Wir haben ihnen immer erklärt, dass die Terrorgruppe, die ihren Vater ermordet hat, für den Anschlag verantwortlich war, und dass dies nicht bedeutet, dass alle Palästinenser und Araber so sind. Wir sind sehr froh, dass unsere Kinder ohne jeglichen Hass in ihren Herzen aufgewachsen sind."

Späte Anerkennung durch das IOC

Witwe Ilana Romano zeigt einen Bildband mit Foto ihres ermordeten Mannes
Witwe Ilana Romano zeigt einen Bildband mit Foto ihres ermordeten MannesBild: David Silverman/Getty Images

Obwohl ihre Forderungen an die deutsche Regierung immer noch nicht erfüllt wurden, haben die beiden Witwen in anderen Bereichen Fortschritte gemacht. Sie wurden von IOC-Präsident Thomas Bach persönlich zur Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio eingeladen. Dort wurde den Opfern des Anschlags bei der offiziellen Eröffnungsfeier erstmals eine Schweigeminute gewidmet. Dieses Zeichen des IOC beendete eine 49 Jahre andauernde Kampagne der Familien für eine offizielle Anerkennung durch die olympische Familie.

"Ich habe sofort geschrien: Ilana, Ilana!" erinnert sich Spitzer. Ihre Freundin und langjährige Mitstreiterin hörte jedoch nicht zu. Romano weinte. "Nach 49 Jahren des Schreibens und Redens und des Hin- und Herreisens sehen wir plötzlich, wie Japans Kaiser und der französische Präsident unseren Lieben kondolieren, während Millionen Menschen dabei zusehen", erinnert sich Spitzer.

Auch jetzt, vor dem 50. Jahrestag, ist Romanos Schmerz noch genauso stark wie in den Tagen direkt nach dem Anschlag. "Wenn jemand sagt, dass die Zeit alle Wunden heilt, dann sage ich euch: Das tut sie nicht." Dafür sorgt natürlich auch, dass es nach wie vor keine Einigung und damit auch keinen Abschluss gibt. "Wir mussten 49 Jahre lang um Entschädigung und Anerkennung kämpfen", sagt Spitzer. "Es fühlt sich surreal an."

Doch der verzweifelte Kampf gegen die Regierung eines der mächtigsten und reichsten Länder der Welt hat sie und ihre tiefe Freundschaft stark gemacht. "Ich habe sie aufgefangen, als sie am Boden lag, und sie hat das Gleiche mit mir gemacht", sagt Ilana Romano. "Ankie zu treffen war das größte Glück, das ich haben konnte."

Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.