Faktencheck: Verschwörungstheorien gegen Muslime nehmen zu
4. September 2024Hasskommentare gegen Muslime und Migranten haben in Deutschland nach dem brutalen Messerangriff in Solingen stark zugenommen. Bei der Tat, die der Islamische Staat (IS) später für sich reklamierte, hatte ein syrischer Asylbewerber drei Menschen getötet und acht weitere verletzt. Kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, die am Sonntag stattfanden, nutzten rechte Akteure wie die Alternative für Deutschland (AfD) den Anschlag vor allem, um die Bundesregierung zu kritisieren. Die AfD, die in Teilen als gesichert rechtsextrem gilt und bei den Wahlen hohe Gewinne einfuhr, führte die Vorfälle auf die Migrationspolitik der Regierungskoalition zurück.
Im Netz verbreiteten sich derweil zahlreiche Hass-Kommentare und falsche Behauptungen zu dem Vorfall - oft richteten sie sich gegen Muslime. Es ist ein Phänomen, das nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern stärker wird und wie im britischen Southport schon zu Ausschreitungen rechtsextremer Gruppen führte. Das Faktencheck-Team der DW hat sich eine ganze Gruppe verifizierter Konten auf X angesehen, die aktiv Desinformationen verbreitet hat, indem sie Memes, Karikaturen sowie zweifelhafte Behauptungen und offensichtliche Lügen veröffentlichte.
Behauptung: Auf der Plattform X teilte etwa der AfD-Abgeordnete Martin Siechert kurz nach dem Anschlag in Solingen ein Video und schrieb dazu: "Radikale Muslime sind überall in Deutschland auf dem Vormarsch. Hier ein Kurzvideo einer Kundgebung des islamischen Staats wenige Stunden nach Solingen in Nürnberg." Das Video mit der Behauptung, das in verschiedenen Sprachen veröffentlicht wurde, zeigt mehrere Personen mit schwarzen Flaggen vor der Lorenzkirche in Nürnberg.
DW Faktencheck: Falsch
Das Video zeigt keine Kundgebung des Islamischen Staates, sondern eine schiitische Prozession zu Arbain, ein religiöses Gedenkfest, bei der schiitische Muslime den Märtyrertod des Imams Hussein, Enkel des Propheten Mohammed, betrauern. Mithilfe einer Bilderrückwärtssuche war es möglich, zu einem Facebook-Post des "Zahraa Kulturzentrums Nürnberg" zu gelangen. Das Zentrum teilte am 24. August mehrere Bilder von dem Gedenkfest. Zu sehen ist die gleiche Szenerie wie in dem Video, nur wird hier deutlich, dass es sich um die religiöse Zeremonie handelt. Zuvor hatte das Kulturzentrum die Veranstaltung auch auf seiner Facebook-Seite angekündigt.
Bei den schwarzen Fahnen, die die Teilnehmenden schwenken, handelt es sich nicht um IS-Flaggen. Die Schrift auf den Fahnen enthält die Namen schiitischer Imame, nicht IS-Slogans, und soll Trauer und Kummer symbolisieren. Ein Vergleich mit Fotos der IS-Flagge zeigt ebenfalls, dass es sich nicht um die gleiche Fahne handelt.
Islamophobie nimmt europaweit zu
Die Verbreitung von islamophober Hetze ist kein Einzelfall, denn auch in anderen europäischen Ländern nimmt sie zu - besonders angefacht durch ähnliche Angriffe wie in Solingen. Etwa nach einem tödlichen Angriff in der spanischen Stadt Toledo. Mitte August wurde dort ein elfjähriger Junge erstochen. Zahlreiche Social-Media-Beiträge stellten kurze Zeit später fälschlicherweise einen Zusammenhang zwischen dem Angriff und einem muslimischen Einwanderer nordafrikanischer Herkunft her. Der Täter war laut offiziellen Angaben der spanischen Guardia Civil ein 20-jähriger Spanier.
Die Verbreitung der Desinformationskampagnen gegen Muslime und Migration in Europa folgt oft einem bestimmten Muster, sagt Lorena Martinez, Leiterin der Redaktion Europa bei der Faktencheck-Organisation "Logically Facts", im Gespräch mit der DW. "Sie beginnen mit einer aktuellen Nachrichtensituation und bombardieren das Publikum mit Inhalten, die darauf abzielen, es auf einen Pfad der Spekulationen zu führen, mit einer unvermeidlichen Schlussfolgerung: dass Muslime und Migranten eine existenzielle Bedrohung für Europa darstellen."
Mögliche Folgen von Hass im Netz zeigten sich im britischen Southport. Nach einem Messerangriff Ende Juli, bei dem drei Mädchen getötet wurden, wurden zahlreiche Spekulationen in den sozialen Medien geteilt. Viele Nutzer behaupteten hier ebenfalls fälschlicherweise, der Täter sei ein muslimischer Migrant. Laut Informationen der Polizei wurde der Täter aber als Sohn ruandischer Eltern im walisischen Cardiff geboren. Die Falschmeldungen über die Herkunft und Religion des Täters führten in England und Nordirland zu schweren Ausschreitungen rechtsextremer Gruppen.
Führt Online-Hass zu Straftaten?
Rechtsextreme Akteure, Influencer und Online-Trolle schürten die Unruhen weiter indem sie teilweise manipulierte Bilder teilten. In diesem Post etwa wird behauptet, dass die "Multikulti-Lobby" dazu geführt habe, dass Polizisten Imamen in London die Füße küssen würden. Bei genauerer Betrachtung fallen jedoch einige Details im Bild auf, die auf ein KI-generiertes Bild hindeuten. So sind die Gesichter der Personen im Hintergrund verzerrt. Der eine Fuß des Polizisten befindet sich in einer unnatürlichen Körperhaltung und auch die Schatten entsprechen nicht der Realität.
Trotzdem teilten viele Nutzende das Bild. "Wenn der Staat weiterhin die ISLAMISTEN vor den Bürgern schützt, anstatt die Bürger vor dem Islamismus zu schützen, wird es in ganz Europa zu Szenen [von Aufruhr und Gewalt] kommen", heißt es in einem Tweet von einem deutschen Account.
Einige bekannte rechte Persönlichkeiten riefen zudem dazu auf, sich den Ausschreitungen in Southport anzuschließen und Moscheen anzugreifen. Tatsächlich belegen offizielle Zahlen, dass es einen Anstieg islamfeindlicher Straftaten gibt. In Großbritannien erfasste die Organisation "Tell Mama", die antimuslimische Vorfälle im Vereinigten Königreich dokumentiert, einen siebenfachen Anstieg der antimuslimischen Straftaten zwischen dem 7. Oktober und dem 7. Februar im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Ähnliches in Deutschland: Im Jahr 2023 haben sich die Zahlen hier im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Fast jede zehnte dieser Straftaten war gewalttätiger Natur, so die deutsche "Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit" (CLAIM). Auch in Österreich und anderen europäischen Ländern sind solche Entwicklungen zu beobachten.
X und Telegram: Ein Platz für Hass und Hetze
Besonders die Social-Media-Plattform X, ehemals Twitter, hat sich zu einem Ort für Hass, Hetze und Desinformation gewandelt. Unvorhersehbare Änderungen der Richtlinien und zweifelhafte Behauptungen von X-Chef Elon Musk verstärken den Trend noch. Während der Unruhen im Vereinigten Königreich behauptete er zum Beispiel, dass ein Konflikt unvermeidlich sei, wenn unvereinbare Kulturen ohne Assimilation zusammengebracht werden. Er teilte Dutzende Beiträge rechtsgerichteter Influencer mit seinen 195,8 Millionen Followern. Auch Plattformen wie Telegram bieten rechten Hetzern Raum für Hass und Bedrohungen. Nach den Morden in Southport sammelten sich dort Zehntausende, um zu Gewalt und Zerstörung aufzurufen, einschließlich eines Angriffs auf eine Moschee.
Regulierung von Plattformen nach wie vor schwierig
Seit langem versuchen europäische Länder, Social-Media-Plattformen zu verpflichten, gegen Hassrede, einschließlich gegen Muslime und religiöse Gemeinschaften, vorzugehen. Durch das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) und dem sogenannten Digital Services Act (DSA) der Europäischen Union sollen Soziale Netzwerke genauer prüfen, was auf ihren Plattformen passiert.
Nachdem falsche Informationen im Internet rechte Ausschreitungen im Vereinigten Königreich ausgelöst hatten, erwog auch die britische Regierung, ihre nationalen Gesetze zur Online-Sicherheit zu ändern. Nach den geltenden Gesetzen müssen Unternehmen nur dann mit Geldstrafen rechnen, wenn sie es versäumen, illegale Inhalte wie Aufforderungen zur Gewalt oder Hassreden zu kontrollieren. Die vorgeschlagenen Änderungen könnten es ermöglichen, Unternehmen zu sanktionieren, wenn sie "legale, aber schädliche" Inhalte wie Fehlinformationen verbreiten oder zulassen.
"Diese Unternehmen können im Grunde wie Diktaturen agieren, wenn sie es wollen. Sie agieren nach einer kindischen Ideologie, die die freie Meinungsäußerung missversteht. Die Politik von Plattformen wie diesen hat diesen Prozess eindeutig verschlimmert", sagte Dr. Bharath Ganesh, Forscher für Medienwissenschaft und politische Kommunikation an der Universität Amsterdam, gegenüber der DW über Social-Media-Plattformen. Die Durchsetzung dieser Gesetze bleibt damit eine Herausforderung, so Ganesh. Zumindest solange die Unternehmen in ihren Heimatländern wie den Vereinigten Staaten oder China ein hohes Maß an Freiheit und Entscheidungsgewalt genießen.