Das geheime Leben der iranischen Jugend
28. Oktober 2022Als der französischen Marie-Eve Signeyrole und ihrer iranischstämmigen Co-Autorin, der Dramaturgin Sonia Hossein-Pour, vor vier Jahren die Idee kam, ein Theaterstück über den Iran auf die Bühne zu bringen, ahnten die beiden Frauen nicht, wie sich die Situation in dem Land zuspitzen würde. Das fiktive Musiktheaterstück "Negar" handelt von "der iranischen Jugend, ihrem Wunsch nach Emanzipation und Freiheit", so Signeyrole. Die Uraufführung findet am 29. Oktober an der Deutschen Oper Berlin statt.
Im Iran gibt es seit Wochen landesweite Proteste gegen das Mullah-Regime. Die Jugend des Landes und vor allem die Frauen wollen sich Gehör verschaffen: Sie fordern einen politischen Wandel. Doch das Regime schlägt erbarmungslos zurück, Sicherheitskräfte haben sowohl Demonstrierende als auch unbeteiligte Passantinnen und Passanten niedergeknüppelt und getötet. Die Proteste begannen, nachdem die 22-jährige Jina Mahsa Amini Mitte September in Polizeigewahrsam gestorben war. Die "Sittenpolizei" hatte sie verhaftet, weil ihr Kopftuch nicht korrekt saß.
Das Theaterstück "Negar" spielt zu einer anderen Zeit - nämlich im Teheran des Jahres 2013. Das Jahr also, in dem der gemäßigte Kleriker Hassan Rouhani zum Präsidenten gewählt wurde und sich das Land "wieder dem Westen öffnete", wie Sonia Hossein-Pour es gegenüber der DW beschreibt.
Alles für die Freiheit
Das fiktive Stück erzählt die Geschichte der Iranerin Shirin, die nach einem zehnjährigen Aufenthalt in Frankreich nach Teheran zurückkehrt. Dort trifft sie ihre Kindheitsgefährten wieder: Negar, die Musikerin sein möchte, obwohl Frauen nicht in der Öffentlichkeit auftreten dürfen, und deren Bruder Aziz, einen Dokumentarfilmer. Die Geschwister verlieben sich beide in Shirin und es entsteht eine Dreierbeziehung - mit gefährlichen Folgen.
"Negar" öffnet dem Publikum verschlossene Türen in Teheran und macht deutlich, welche verbotenen Risiken man eingehen muss, um ein Stück Freiheit zu finden.
Hossein-Pour, die als Tochter iranischer Eltern in Paris geboren wurde, führte im Iran Interviews mit jungen Menschen und half beim Schreiben des Textes zum Theaterstück. Einige Passagen der Geschichte beruhen auf ihren eigenen Erfahrungen, die sie bei Sommerurlauben im Iran machte.
Ziel ihrer Gespräche vor Ort war es, "zu erfahren, wie es ist, dort zu studieren, wie es ist, sich in einen Mann zu verlieben und die Beziehung auszuleben, auch wenn man nicht verheiratet ist". Sie habe auch mit Menschen aus der LGBTQI+-Gemeinschaft gesprochen, um zu erfahren, was es bedeutet, dort schwul zu sein.
Eine unmögliche Liebe
Der Iran sei eine Gesellschaft der Widersprüche, so Hossein-Pour. "In der Öffentlichkeit kann man im Grunde nichts machen, aber in den eigenen vier Wänden kann man unvorstellbare Dinge tun." Wie in jeder Gesellschaft gebe es eine Schattenseite, die im Iran fast vollständig vor der Öffentlichkeit verborgen werde: "Einige Menschen nehmen Drogen oder trinken zu viel Alkohol, weil sie traurig sind", erzählt die Dramaturgin. Auch Prostitution sei weit verbreitet - "und zwar immer verborgen hinter einem Schleier, den die Gesellschaft über die Menschen legt".
Dass sich in "Negar" zwei Frauen ineinander verlieben, ist zum Beispiel etwas, das nach Ansicht der iranischen Regierung "nicht passieren darf". Homosexualität ist im Iran verboten und wird mit der Todesstrafe geahndet. "Es gibt diesen Satz von Ahmadinedschad, der während seiner Präsidentschaft (Mahmoud Ahmadinedschad war von 2005-2013 der Präsident des Iran, Anmerkung d. Red.), einmal sagte, dass es im Iran keine Homosexuellen gäbe. Das war natürlich auch eine Möglichkeit, die Realität zu verschleiern", erklärt Hossein-Pour. "Aber natürlich gibt es dort viel Homosexualität, und es ist wichtig, das deutlich zu machen."
In der Inszenierung geht es auch um "Sehnsüchte und Projektionen, die entstehen, wenn verschiedene Welten aufeinanderprallen". Zum Beispiel um die Unterschiede zwischen dem Leben einer Frau, die in Frankreich aufgewachsen ist, und einer, die im Iran groß wurde. "Es ist für beide spannend zu sehen, wie sie sich entwickelt hätten, wenn sie im jeweils anderen Land aufgewachsen wären - ein Spiegel zweier Kulturen", sagt Hossein-Pour. Der kulturelle Unterschied, der zwischen den beiden entstanden ist, ist einer der Gründe, warum ihre Romanze zum Scheitern verurteilt ist.
Zusammenklang persischer und westlicher Musik
Bei der musikalischen Vertonung von "Negar" prallen zwei musikalische Welten aufeinander - einzigartig für eine Produktion der Deutschen Oper. Der französische Komponist Keyvan Chemirani hat iranische Wurzeln, er kennt die traditionelle persische Musik und ist ein Virtuose auf der Bechertrommel, der Zarb. "Traditionelle persische Musik (...) hat eine gewisse Strenge, sie ist mathematisch aufgebaut, lässt aber Raum für Improvisation", erklärt Chemirani im Programmheft zu "Negar".
Westliche klassische Instrumente wie Cello und Posaune erklingen bei der Aufführung so gemeinsam mit der persischen Kamantsche, einer Stachelgeige. Auch die Sängerinnen und Sänger kombinieren verschiedene Genres. Die iranisch-kanadische Sängerin Golnar Shahyar, die die Titelrolle spielt, beherrscht Jazz, Klassik und persische Gesangstechniken.
Das Team hatte gehofft, mehr Musikerinnen und Musiker aus dem Iran für die Produktion gewinnen zu können, aber die Thematik - insbesondere die dargestellte Intimität und Sexualität - stellte ein zu großes Risiko für sie dar.
Ein revolutionärer Akt
Berlin ist eine Stadt, in der künstlerische Welten mit Leichtigkeit verschmelzen. In den letzten Wochen sind in der deutschen Hauptstadt Tausende auf die Straße gegangen, um ihre Solidarität mit den Demonstrierenden im Iran zu bekunden. Am 22. Oktober protestierten schätzungsweise 80.000 Menschen im Zentrum Berlins, skandierten, sangen und hielten Schilder in deutscher und englischer Sprache mit der Aufschrift "Frauen, Leben, Freiheit" hoch. Auch aus anderen europäischen Ländern waren Menschen angereist, um dabei zu sein.
Dass die Premiere von "Negar" ausgerechnet in die Zeit der Proteste fällt, ist reiner Zufall - ebenso wie die vielen Gemeinsamkeiten zwischen der Handlung und dem realen Leben. In einer Szene beschreibt Aziz, wie sich seine Schwester Negar als Teenagerin die Haare kurzschneiden lässt. "Es war ihre Art der Rebellion, und jetzt ist dieser Akt des Haareschneidens zum Symbol des Protestes im Iran geworden", sagt Hossein-Pour gegenüber der DW. Seit dem Tod Aminis haben sich Frauen im Iran und auf der ganzen Welt aus Solidarität die Haare abgeschnitten.
"Das zeigt mir, dass sich die Geschichte wiederholt und dass das, was wir damals geschrieben haben, leider nichts Unrealistisches ist", so Hossein-Pour. "Es dauert immer noch an." Sie hofft, dass "Negar" den Zuschauerinnen und Zuschauern zumindest ein wenig einen Eindruck von diesem Land vermitteln kann - wie die Menschen dort leben, wie sie lieben und welchen Freiheitsdrang sie haben.
Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords.