Orban bringt Ungarns Museen unter Kontrolle
25. Juli 2024Mehrere tausend Teelichter flackern auf dem Asphalt, rund um das Gebäude herum. Etwa drei Dutzend Frauen und Männer, die meisten mittleren Alters, stehen vor dem Eingang in der Budapester Karolyi-Straße 16. Sie schweigen. Für ein Foto halten sie die Taschenlampen ihrer Telefone in die Höhe.
Im Gebäude befindet sich das mehr als 70 Jahre alte Petöfi-Literaturmuseum, die Anwesenden sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses. Es gibt keine Ansprache, keine Pressestatements, aber soviel ist bei der Symbolik mit den Kerzen klar: Es soll eine Abschiedszeremonie und eine Trauerfeier sein.
Ein Abend in Budapest am 30. Juni 2024. Am nächsten Tag, dem 1. Juli, tritt in Ungarn eine Gesetzesänderung in Kraft, die einen weiteren Schritt in der Zentralisierung der Kulturlandschaft bedeutet: Fünf thematisch völlig unterschiedliche Institutionen werden mit dem Ungarischen Nationalmuseum vereint - das Naturkundemuseum, das Museum für Angewandte Kunst, das Museum für Handel und Gastgewerbe, das Petöfi-Literaturmuseum sowie die Nationalbibliothek Szechenyi. Sie gehören zu den bedeutendsten musealen Einrichtungen Ungarns.
Ultrazentralistisches System
Es ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg der totalen Zentralisierung Ungarns unter Viktor Orban. Seit er 2010 mit Zwei-Drittel-Mehrheit an die Macht kam, wurden unabhängige und autonome Strukturen in Staat und Gesellschaft immer mehr abgeschafft und ein teils ultrazentralistisches System errichtet, in dem nur noch Orban, sein Führungszirkel und Orban-treue Funktionäre die Entscheidungsgewalt haben. Betroffen sind die öffentlich-rechtlichen Medien und die lokalen Selbstverwaltungen ebenso wie die Bereiche Bildung, Gesundheit, Sport und Kultur - wie jetzt am Fall der sechs Museen sichtbar.
Die neue Mammutinstitution, die "Zentrale des Ungarischen Nationalmuseums für öffentliche Sammlungen", wird von Szilard Demeter geleitet. Er ist ehemaliger Redenschreiber des Ministerpräsidenten Viktor Orban. Demeter wurde 2018 zum Direktor des Petöfi-Literaturmuseums ernannt, im Jahr darauf zu Orbans Sonderbeauftragten für Literaturfragen. Seitdem gilt er in Ungarn als eine Art oberster Kulturbeamter.
Demeter ist selbst Schriftsteller, Publizist, außerdem Bassgitarrist in Rockgruppen und studierter Philosoph. Mehr als durch fachliche und Führungsqualitäten fiel er in der Vergangenheit mit umstrittenen Äußerungen auf. Er ist der Meinung, dass "80 Prozent der ungarischen literarischen Werke in den Mülleimer gehören, weil sie wertlos sind". Er sagte: "Theater und den ungarischen Film hasse ich ausdrücklich." Und er schrieb über den US-Börsenmilliardär und liberalen Philantropen George Soros, der ungarisch-jüdischer Abstammung ist und den Holocaust überlebte: "Europa ist seine Gaskammer." Eines stand bei Demeter jedoch nie zur Debatte: seine Loyalität zur Orban-Regierung.
Angst, zu sprechen
Tatsächlich gelten unter Orban einfache Regeln: Loyalität wird belohnt, Kritik bestraft. Mehrere ungarische Medien spotteten denn auch darüber, dass Szilard Demeter zu seinem 48. Geburtstag am 1. Juli ein seiner Treue würdiges Geschenk von der Regierung erhalten habe: sechs Museen. Die per Gesetz verfügte Zusammenlegung der sechs Einrichtungen löste in Museumskreisen Bestürzung aus. Wer privat mit Museumsfachleuten spricht, hört nahezu einhellig die Ansicht, dass die Maßnahme die Forschungs-, Gestaltungs- und Veröffentlichungsfreiheit gefährde.
Doch in ungarischen Medien findet sich kein einziger Artikel, in dem Mitarbeitende der betroffenen Institutionen ihre Bedenken geäußert hätten. Auch zahlreiche von der DW angefragte Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter lehnen es ab, sich öffentlich zu äußern, trotz Anonymitätsgarantie und der Zusicherung, keine Angaben zu veröffentlichen, die zu einer Identifizierung führen könnten. Eine Museologin, die ihrerseits Kollegen im Petöfi-Literaturmuseum gefragt hat, ob sie sprechen würden, sagt: "Lieber nicht. Allein schon unsere Aktion mit den Teelichtern hat genug Aufsehen erregt, obwohl sie nur als stilles Gedenken und Abschied gemeint war."
Zentralisierung hat keine ideologische Grundlage
Das zeigt deutlich, wie ausgeprägt das System der existenziellen Abhängigkeit und Einschüchterung in Ungarn ist. Doch während Ärzte, Lehrer, Schauspieler oder Journalisten mitunter irgendwo noch eine berufliche Nische finden, haben es Museumsmitarbeiter besonders schwer. Da es so gut wie keine privaten Museen gibt, laufen sie Gefahr, sich mit einem einzigen falschen Schritt aus dem System auszuschließen.
Dabei geht es Orban und seiner Partei Fidesz, so glauben Beobachter, nicht unbedingt um eine ideologische Gleichschaltung. "Ich habe immer mehr den Eindruck, dass diese Zentralisierung keine ideologische Grundlage hat. Wir sehen hier einfach ein weiteres Beispiel für den wohlbekannten 'Schaufenster'-Modus der Fidesz-Kulturpolitik", sagt die ungarische Stadthistorikerin und Museumsjournalistin Judit N. Kosa der DW.
Die Expertin meint damit vor allem, dass die Orban-Regierung weiterhin lautstark über die Wichtigkeit der nationalen Kultur predigt, in Wirklichkeit jedoch schwerwiegende Kürzungen vornimmt. Orban wird nachgesagt, dass er 2002 lernte, dass man mit Kultur keine Wahlen gewinnen könne. Denn obwohl er vor dem Votum mehrere Kultureinrichtungen bauen und renovieren ließ, wurde er damals abgewählt.
"Bulldozer-Methode" funktioniert nicht immer
"Dementsprechend könnte die jetzige Museumszusammenlegung sehr pragmatische Gründe haben", sagt Kosa. "Es geht einfach darum, dass der Ministerpräsident niemandem außer Szilard Demeter vertraut. Seine Loyalität ist unbestreitbar, und er beschwert sich nie. 'Halte den Museumssektor unter Kontrolle, damit wir uns nicht mehr damit befassen müssen', ist vermutlich Orbans Anliegen an Demeter."
Bislang ist die Zentralisierung im Museumssektor geräuschlos über die Bühne gegangen. Doch nicht immer funktioniert die "Bulldozer-Methode", wie Orbans Politik in Ungarn verbreitet genannt wird. Ein Beispiel dafür war der Führungsstreit um die Budapester Universität für Theater- und Filmkunst (SZFE). Im Herbst 2020 protestierten Dozenten und Studenten dagegen, dass ihre Hochschule in eine Stiftungskonstruktion überführt wurde, an deren Spitze Orbans Gefolgsmann Attila Vidnyanszky, der Direktor des Nationaltheaters, steht.
Obwohl es den Protestierenden letztlich nicht gelang, zu verhindern, dass die Regierungspartei schließlich ihren politischen Günstling an die Spitze der neuen Theaterakademie setzte, konnte die Bewegung "Free SZFE" Teilerfolge verzeichnen. Ihr Protest fand breite nationale und internationale Resonanz: Viele nicht direkt Betroffene schlossen sich dem Protest in Ungarn an. Aus dem Ausland kamen offene Solidaritätsbriefe, Berliner Gastspiele von Vidnyanszky wurden abgesagt, regierungskritische SZFE-Studierende erhielten Angebote für ausländische Studienplätze.
Eines hat die Zentralisierung im ungarischen Kulturbereich damit auch bewirkt: Staatliche ungarische Kultur trägt überall im Ausland inzwischen den Ruf, keine echte Kultur mehr, sondern ein Anhängsel der Orban-Ordnung zu sein.