Orban sieht Ungarns Ehre verletzt
11. September 2018Viktor Orban ließ die Europaabgeordneten erst einmal warten und erschien 12 Minuten zu spät im Plenarsaal. Die grüne Berichterstatterin Judith Sargentini hob gerade an, die Verstöße Ungarns gegen die Verträge der EU aufzulisten, als der Premier in den Plenarsaal in Straßburg kam. Damit Orban alle Vorwürfe anhören musste, fing sie ihre Rede einfach noch einmal an. Die Liste der Vorwürfe ist lang. Judith Sargentini kreidet der ungarischen Regierung an, systematisch gegen Menschenrechte, den Schutz der Minderheiten, die Freiheit der Wissenschaft, gegen Toleranz und Solidarität zu verstoßen, wie sie in Artikel 2 der Lissabonner EU-Verträge festgelegt sind. "Wir alle müssen die EU-Bürger schützen. Es ist unsere Pflicht tätig zu werden", hält die niederländische Abgeordnete dem ungarischen Premier vor. Der sitzt mit versteinertem Gesicht in seiner Bank. Er antwortet später, "Ungarn wird in seiner Ehre verletzt."
Im Namen der Europaabgeordneten fordert Sargentini ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages einzuleiten. Der Ministerrat wird aufgefordert, eine Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn festzustellen und Maßnahmen zu empfehlen. Sollte Viktor Orban weiter auf stur schalten, könnten Ungarn am Ende die Stimmrechte in der EU entzogen werden. Diesen drastischen Schritt, ein Verfahren nach Artikel 7 überhaupt einzuleiten, hat das Parlament noch nie unternommen. Viele Abgeordnete erwähnen die historische Bedeutung der bevorstehenden Entscheidung in ihren kurzen Reden.
"Sie wollen ein Volk ausschließen"
Als Viktor Orban dann das Wort für fünf Minuten erhält, wischt er alle Vorwürfe vom Tisch und geht zum Gegenangriff über. Er wirft den Parlamentariern vor, sie wollten das freiheitsliebende, christliche ungarische Volk bestrafen, das sich gegen die Sowjetunion aufgelehnt hat und die Grenzen für DDR-Bürger geöffnet hat. "Eine Mehrheit wird für diesen Bericht stimmen. Sie werden ein Land und ein Volk verurteilen", kritisiert Orban, der sein Land zu einer "illiberalen Demokratie" formen will. "Sie glauben, dass sie besser wissen, als die Ungarn selbst, was Ungarn brauchen." Mit empörter Stimme fügt der Premier, der sich zuhause bereits auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann: "Sie laden sich schwere Verantwortung auf, weil sie ein Land abstempeln wollen und ein Volk ausschließen wollen."
Auf die konkreten Vorwürfe der Parlamentarier geht der Premier, dem seine Gegner autokratische Herrscherallüren vorhalten, nicht ein. Orban verknüpft die Debatte um seine Regierungsführung wie gewohnt mit der Migrationspolitik der EU. Ungarn solle verurteilt werden, weil es keine Migranten wolle, behauptet er. "Ungarn wird sich nicht erpressen lassen. Wir werden unsere Grenzen schützen, auch gegen sie, wenn es sein muss", ruft er in den Plenarsaal. Die Vorwürfe aus dem Parlamentsbericht zu Ungarn nennt Orban pauschal Lügen und Fehlinformationen. 37 falsche Fakten steckten in dem Papier. Er selbst legt eine 108 Seiten dicke Gegendarstellung vor, die er an die Abgeordneten verteilen lässt."
"Sie stehen für ein korruptes System"
Der Chef der Sozialdemokraten im Parlament, Udo Bullmann, geht Victor Orban direkt und persönlich an. Seine Verwandten und sein Schwiegersohn würden von Korruption und Vetternwirtschaft in Ungarn direkt profitieren, empört sich Bullmann. "Sie stehen für das korrupteste System innerhalb der EU". Der Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlaments hat festgestellt, dass 30 Prozent der EU-Gelder für Ungarn in fragwürdigen Verfahren vergeben werden. Außerdem, so Bullmann weiter, habe der Regierungschef wohl nicht verstanden, worum es in der Debatte gehe. Es gehe nicht darum, das ungarische Volk zu verurteilen, sondern die Arbeit der Regierung Orban zu beurteilen. "Dieses Haus verteidigt die Rechte der Menschen in Ungarn", ruft Bullmann aus.
Auch der zuständige EU-Kommissar Frans Timmermans übt scharfe Kritik an der ungarischen Regierung. "Die Zivilgesellschaft in Ungarn wird bedroht durch die Handlungen der ungarischen Behörden." Deshalb hat die EU-Kommission eine Reihe von Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet, die am Ende vom Europäischen Gerichtshof entschieden werden müssen. Timmermans wirft Orban unter anderem vor, Asylbewerber in Transitzonen nicht richtig zu versorgen und die Arbeit von Universitäten unzulässig einzuschränken.
Unterstützung erhielt Orban von rechtspopulistischen Abgeordneten von der britischen Unabhängigkeitspartei und der deutschen AfD. Das Parlament wolle die Souveränität eines Nationalstaates beschneiden bemängelten auch Abgeordnete der Regierungspartei PiS aus Polen. Gegen Polen läuft bereits ein Artikel 7-Verfahren, das von der EU-Kommission (nicht vom EU-Parlament) ausgelöst wurde. Ungarn wäre das zweite Land, das sich diesem Strafverfahren stellen müsste.
Eigene Fraktion könnte gegen Orbans Fidesz stimmen
Die Abstimmung im Plenum erfolgt am Mittwoch. Erforderlich für ein Artikel 7 Verfahren ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Mindestens die Hälfte der Abgeordneten muss sich an der Abstimmung beteiligen. Entscheidend ist das Stimmverhalten der Europäischen Volkspartei (EVP), der die Fidesz-Partei von Ungarns Premier Orban angehört. Es gebe in der EVP-Fraktion Uneinigkeit darüber, ob in Ungarn systematisch EU-Werte verletzt würden, sagte Fraktionschef Manfred Weber (CSU) in Straßburg. Die einzelnen Abgeordneten könnten daher am Mittwoch frei abstimmen. Damit könnte die nötige Mehrheit im Europaparlament erreicht werden.