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Interview mit Ungarn-Experte Lendvai

27. Dezember 2010

Ungarn übernimmt am 01. Januar die EU-Ratspräsidentschaft. Ministerpräsident Victor Orban markiert gestützt auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit den "starken Mann", kritisiert Paul Lendvai im DW-Interview.

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Publizist Paul Lendvai (Foto: Ecowin Verlag GmbH 2010)
Publizist Paul LendvaiBild: Ecowin Verlag

Ungarn übernimmt im Januar 2011 die rotierende Ratspräsidentschaft der Europäischen Union für sechs Monate. Deshalb werden viele Europäer ihre Blicke auf das Land in der Mitte Europas richten, in dem eine rechtskonservative Regierung über eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament in Budapest verfügt und das von der Finanzkrise schwer getroffen wurde. Knapp 10 Millionen Menschen leben in Ungarn. Paul Lendvai ist ungarischstämmig, Chefredakteur der in Wien erscheinenden "Europäischen Rundschau", Publizist und Ungarn-Experte. Er lebt und arbeitet in Wien und Budapest abwechselnd.

Deutsche Welle: Herr Lendvai, Sie haben ihr jüngsten Buch zu Ungarn "Mein verspieltes Land" genannt. Was bedeutet das? Ist Ungarn nicht erwachsen oder neigen die Ungarn zu politischen Spielchen?

Paul Lendvai: Ich glaube eher die zweite Vision. Das ist ambivalent, der Titel ist zweideutig und doppelbödig. Aber zweifellos war es in dem Buch mein Ziel, zu zeigen, dass Ungarn die Chancen, die dieses Land 1989 bei der Wende vom Kommunismus zur Freiheit hatte, dass Ungarn diese Chancen in den letzten 20 Jahren mehrmals verspielt hat.

Ungarn war ja eines der ersten Länder im Ostblock, das die kommunistischen Fesseln abgeworfen hat. Allerdings ohne revolutionäre Umwälzung mit gewendeten Postkommunisten und Sozialisten zunächst. Dann gab es immer wieder ein Wechsel zwischen linken und rechten Regierungen, sehr abrupte Politikwechsel auch. Seit 1999 ist Ungarn in der NATO, seit 2004 ist Ungarn Mitglied in der Europäischen Union. Wie europäisch denken die Ungarn eigentlich inzwischen?

Leider bekommt in Ungarn die Renationalisierung eine stärkere Bedeutung als die Europäisierung. Was meine ich damit? Ich meine, dass die europäischen Staaten, vor allem jene 27, die in der EU sind, ihre Streitigkeiten mehr oder weniger begraben haben und versuchen, einen gemeinsamen Markt, gemeinsame Werte, eine gemeinsame Zukunft zu bauen und dabei eher in die Zukunft schauen. Und da gibt es Probleme in Ungarn. Teilweise aus der Geschichte, teilweise aus der Geographie und teilweise aus dem Bankrott oder Pleite oder Unvermögen der politischen Elite, der politischen Klassen.

Zwanzig Jahre nach der Wende ist jetzt Viktor Orban wieder an der Macht, zwischen 1998 und 2002 war er ja schon mal Ministerpräsident. Orban ist stramm rechts-konservativ, manche sagen sogar, er sei Nationalist. Welches Programm verfolgt Viktor Orban?

Niemand weiß das. Niemand weiß das deshalb, weil die Partei von Viktor Orban zwar die Macht erobert hat, aber sie hat kein durchgehendes Wirtschaftskonzept. Die Regierung laviert von einer Aktion zur Anderen. Schon in den ersten 100 Tagen machte sie gravierende Fehler, zum Beispiel indem sie die Lage Ungarns mit Griechenland verglich. Die Regierung setzt die Nation, die Kirche an die erste Stelle und nicht die bürgerlichen Freiheiten. Diese Politik verursacht Spannungen zu den Nachbarländern, zu Rumänien, vor allem zu der Slowakei. Zum Teil ist auch das Verhältnis zu Serbien angespannt.

Zu Orbans Politik gehört auch, dass er die ungarisch-stämmigen Bewohner im Karpaten-Becken irgendwie zur gemeinsamen Politik anregen will. Die Einführung der Doppelstaatsbürgerschaft gehört zu dieser Politik und wahrscheinlich wird Orban nach der EU Ratspräsidentschaft auch das Wahlrecht den Auslands-Ungarn gewähren, auch dann, wenn sie nicht in Ungarn leben.

Orbans Steuerpolitik begünstigt eher die obere Mittelklasse. Es ist eine Politik, die gegen die Globalisierungen des Auslandskapitals gerichtet ist, aber gleichzeitig sehr gute Beziehungen zu den heimischen Oligarchen hat. Eigentlich ist das eine sehr linkspopulistische Rhetorik, aber gleichzeitig ist die Regierung national. Diese Gegensätze funktionieren wahrscheinlich so lange man alles auf die Fehler, auf das Versagen der früheren sozialistisch-liberalen Regierungen schieben kann.

Derzeit unterstützt eine Mehrheit der Ungarn Viktor Orban, diesen starken Mann. Es gibt eine Sehnsucht nach dem starken Mann und es wird die ganze Medienlandschaft umgestaltet. Stellen sie sich vor, wenn zum Beispiel in Deutschland eine Medienbehörde alle öffentlich-rechtliche Anstalten, also ARD, ZDF, Deutsche Welle und Deutschlandfunk zusammenlegt und einen Aufsichtsrat bildet, der nur von der Regierungspartei besetzt wird und das für die kommenden 9 Jahre. In Ungarn geht die Angst um und zwei liberale Zeitungen, eine Literaturzeitung und eine andere Wochenzeitung für die jüngere Generation erschienen deshalb aus Protest mit einer blanken, weißen Titelseite. Damit wollen sie gegen die drohende Zensur oder die drohende Reglementierung der Medien dokumentieren.

Viktor Orban, der Ministerpräsident markiert den starken Mann, sagen sie. Wie passt denn diese Politik dann zu Europa und zu seiner Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union? Da gibt es doch dann enorme Widersprüche. Man kann doch nicht auf der einen Seite nationale Politik machen und auf der anderen Seite europäische Kompromisse schmieden?

Also ich glaube persönlich, dass die Ungarn das lösen werden in diesen sechs Monaten. Orban will eine schöne Figur machen. Er gibt sich sehr freundlich gegenüber Angela Merkel oder Silvio Berlusconi. Er war auch jetzt in Moskau, um die Beziehungen zu verbessern. Ich glaube innenpolitisch an eine Straffung der Zügel, an eine absolute Machtkonzentration, rechtlich, politisch und medienpolitisch. Außenpolitisch zeigt die Regierung Orban ein schönes, aufgeschlossenes Gesicht. Er hat einen Außenminister, der ausgezeichnet französisch, englisch und deutsch spricht. Er selber spricht englisch. Er war schon einmal Ministerpräsident zwischen 1998 und 2002. Ich glaube, es werden zwar keine gewaltigen Initiativen kommen, aber man wird alles versuchen, elegant und schön die Konferenzen und die Veranstaltungen über die Bühne zu bringen. Eines kann man schon heute voraussagen: Im Gegensatz zu Tschechien, wo während der Präsidentschaft die Regierung gestürzt wurde, besteht diese Gefahr in Ungarn nicht. In Ungarn hat die Regierung eine Zweitdrittel-Mehrheit im Parlament. Und zudem wird die Regierung noch in den großen Fragen von der rechtsradikalen Opposition Jobbik unterstützt.

Die Fragen stellte Bernd Riegert

Redaktion: Gero Rueter