Orhan Pamuk: Der Blick aus meinem Fenster
8. Oktober 2006Orhan Pamuk zeichnet ein liebenswürdiges Bild seiner Heimat. Er verlacht die Schrecken vor dem Erdbeben. Er schreibt von seiner Liebe zu Büchern und zu den Menschen. Er vermittelt auf leise, ironische und sehr menschenfreundliche Weise zwischen den Kulturen. Die Türkei rückt dem deutschen Leser sehr nahe. Der Schriftsteller schaut aus dem Fenster und betrachtet die Welt, vor allem die Welt in Istanbul, mit seinen Augen.
Als ich angefangen habe, über die Stadt nachzudenken, da habe ich mich natürlich erinnert an meine Erinnerungen. Ich bin 53 Jahre alt und 98 Prozent meines Lebens habe ich in Istanbul verbracht. Und immer noch bin ich dort. Und bis zum Ende meines Lebens werde ich dort bleiben, ich bin mir dessen sicher, das möchte ich auch.
Ein sehr persönlicher Streifzug
Und so vergegenwärtigt Pamuk in vielen Texten seine Heimatstadt, erinnert sich an Orte seiner Kindheit, an die Eltern und die Großfamilie, an den liebenswerten, gar nicht patriarchalischen Vater, an die schrullige, vereinsamte Großmutter, an Straßen, Menschen, an Verschwundenes. Es ist ein sehr persönlicher Streifzug durch die Geschichte. Und Pamuk hat auch ein Vorbild für diese Exkursionen: den deutschen Schriftsteller Walter Benjamin.
Benjamin hatte recht. Als ich angefangen habe, über Istanbul zu schreiben, habe ich nicht die Geschichte des Hauses X gesehen, sondern meine eigenen Erlebnisse in diesem Haus.
So zeichnet Orhan Pamuk seine ganz eigene Sicht Istanbuls, die geprägt ist von Hüsün, was so viel heißt wie Melancholie, Tristesse. Nicht bunt und farbig, wirkt es in der Sicht Pamuks, nicht nachträglich koloriert. Der Schriftsteller hält seine Bilder von Istanbul in schwarz-weißen Tönen fest.
Die Stadt, in der ich meine Kindheit erlebt habe, war eben so, wie ich erzählt habe. Das war ein melancholischer Ort, ein Ort von Hüsün, ein trauriger Ort. Aber meine Kindheit habe ich in den 50ern und 60ern erlebt. In den 90ern oder ab dem Jahre 2000 war Istanbul farbenfroher, erfolgreicher, offener.
Politik - eine unbehagliche Angelegenheit
Neben autobiographischen Schriften finden sich in dieser Sammlung auch Texte über die Literatur und Schriftsteller, die Pamuk beeinflussten: Nabokov, Dostojewski, Stendhal. Pamuk gibt Anregungen zum Lesen, er schildert, wie er sich von einigen Büchern befreite, beantwortet die Frage, für wen er eigentlich schreibt.
Die Politik erscheint Pamuk wohl eher als unangenehme, beinahe peinliche, jedenfalls unbehagliche Angelegenheit. Der Schriftsteller weiß allerdings auch: "Die Politik kann bedrückend sein“. So heißt das zweite Kapitel und es endet mit Pamuks Bericht über seinen Prozess vom Dezember 2005. Pamuk war angeklagt wegen Verunglimpfung des türkischen Staates. Er hatte in einem Interview den Völkermord an den Armeniern zum Thema gemacht. Ein Tabu in der Türkei. Der Prozess fand ausgerechnet in jenem Gerichtsgebäude gegenüber einem dreistöckigen Haus statt, in dem Pamuks Großmutter vierzig Jahre lang allein gelebt hatte. - Pamuks Menschenfreundlichkeit ist durch Erfahrungen mit Ideologen und Scharfmachern nicht zu irritieren. Sein Credo klingt unverändert warmherzig und idealistisch:
Etwas schön zu finden, entsteht nicht deswegen, weil die Schönheit auf den Straßen ist, sondern weil wir bereit sind, es als schön zu empfinden.
Orhan Pamuk
Der Blick aus meinem Fenster
Hanser 2006
ISBN 3-446-20739-2
EUR 21,50