Osman Kavalas Richtern geht es an den Kragen
19. Februar 2020Nach dem Freispruch des Unternehmers Osman Kavala und acht weiterer Angeklagter in der Türkei sind Untersuchungen gegen die zuständigen Richter eingeleitet worden. Der Rat der Richter und Staatsanwälte ermittle gegen die Juristen des 30. Gerichts für schwere Straftaten in Istanbul, berichtet die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.
Das Gericht am Hochsicherheitsgefängnis in Silivri hatte Kavala überraschend vom Vorwurf freigesprochen, die regierungskritischen Proteste zum Erhalt des Istanbuler Gezi-Parks vom Sommer 2013 finanziert und damit einen Umsturz geplant zu haben. Zudem ordneten die Richter Kavalas sofortige Freilassung an. Stattdessen erließen andere Richter kurz darauf einen neuen Haftbefehl gegen den 63-Jährigen. Er wurde laut Anadolu zunächst für einen Gesundheitscheck in ein Krankenhaus und dann in die Polizeizentrale in Istanbul gebracht. Wo sich Kavala derzeit aufhält, ist unbekannt.
Gegen Kavala wird nun wegen des Putschversuchs von Teilen des Militärs im Juli 2016 gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ermittelt. Erdogan macht dafür den im US-Exil lebenden Prediger Fetullah Gülen verantwortlich und lässt willkürlich gegen direkte und vermeintliche Anhänger vorgehen. Etwa 80.000 Menschen wurden seither angeklagt. Gülen bestreitet jede Verwicklung.
Erdogan greift Kavala massiv an
Vor der Fraktion seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP griff türkische Staatschef Kavala jetzt indirekt massiv an und brachte ihn mit dem in Ungarn geborenen US-Milliardär George Soros in Verbindung. "Menschen wie Soros arbeiten hinter den Kulissen daran, Unordnung zu schaffen, indem sie in einigen Ländern Aufstände provozieren", sagte Erdogan in Ankara. Der Arm Soros' "wurde in der Türkei inhaftiert, aber sie haben es gewagt, ihn freizusprechen". Kavala hatte Verbindungen zum türkischen Ableger der Open Society Foundation des US-Milliardärs Soros.
Zum neuen Haftbefehl gegen Kavala sagte Erdogan, dieser müsse respektiert werden. Um seine Äußerung zu untermauern, stellte er eine direkte Verbindung zwischen den Protesten 2013 und dem gescheiterten Putsch her. Die Ereignisse von Gezi seien wie ein Militärputsch oder Anschläge von Terror-Organisationen ein "niederträchtiger Angriff, der es auf den Staat und das Volk abgesehen hat", meinte Erdogan.
EU und Auswärtiges Amt sind alarmiert
International ist mit Entsetzen und Bestürzung auf die jüngste Entwicklung in der Türkei reagiert worden. Die Entscheidung zu einem neuen Haftbefehl beschädige die Glaubwürdigkeit des türkischen Justizsystems weiter, betonte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Brüssel. "Juristische Verfahren können nicht als Mittel dafür benutzt werden, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen."
Bundesaußenminister Heiko Maas kritisierte die neue Festnahme als "unter jedem Gesichtspunkt nicht nachvollziehbar". Mit Blick auf die Anschuldigungen verlangte er schnellstmögliche Aufklärung.
Der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans sprach von einem "alarmierenden" Schritt. Er forderte die sofortige Freilassung des türkischen Intellektuellen. "Der Eindruck, dass die kurzfristige Festnahme politisch motiviert ist, liegt auf der Hand", erklärte der SPD-Chef.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wertete die Entscheidung der türkischen Staatsanwaltschaft als "zynisch und ungeheuerlich". Die türkische Amnesty-Aktivistin Milena Buyum sprach von "vorsätzlicher und kalkulierter Grausamkeit". Nach Ansicht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) zeigt die Inhaftierung, dass sich die türkische Justiz unter "enger politischer Kontrolle" befindet. Es handle sich um ein "rachsüchtiges und gesetzloses Vorgehen", so die HRW-Vertreterin Emma Sinclair-Webb.
Steudtner-Urteil verschoben
Unterdessen wurde das für diesen Mittwoch erwartete Urteil in einem weiteren hochumstrittenen Strafprozess in Istanbul auf April verschoben. Angeklagt sind elf Menschenrechtler, darunter der Deutsche Peter Steudtner, der Ehrenvorsitzende der türkischen Sektion von Amnesty International, Taner Kilic und die türkische Amnesty-Direktorin Idil Eser. Ihnen wird angebliche "Unterstützung einer Terrororganisation" vorgeworfen.
se/qu (dpa, afp, rtr, epd)