Osteranschläge in Nigeria
10. April 2012Das Osterfest wurde in Nigeria von mehreren schweren Anschlägen überschattet. In der Großstadt Kaduna im muslimisch geprägten Norden starben am Sonntagmorgen (08.04.2012) mindestens 41 Menschen. Bei einem weiteren Anschlag in der Stadt Jos erlitten zahlreiche Menschen Verletzungen. Am Montag wurden sieben weitere Menschen bei Gewalttaten getötet.
Der erste Anschlag ereignete sich am Sonntagvormittag in der Industrie- und Verwaltungsstadt Kaduna. Offenbar hatte ein Selbstmordattentäter versucht, sich mit einem Auto voller Sprengstoff einer Kirche zu nähern. Die Polizei berichtete, dass das Auto an einer Sperre abgewiesen worden war. Wenig später detonierten die Sprengsätze an einer belebten Kreuzung. Unter den Opfern sind zahlreiche jugendliche Motorrad-Taxifahrer. 20 Menschen starben sofort, bis Dienstagmorgen (10.04.2012) zählten Rettungskräfte und Krankenhäuser weitere 21 Tote. Mehrere Stunden nach dem Anschlag in Kaduna explodierte in der zentralnigerianischen Stadt Jos eine Bombe. Dabei habe es mehrere Verletzte, aber keine Toten gegeben, teilte ein Sprecher des Katastrophenschutzes mit.
Ein Werk von Boko Haram?
Bis Dienstagmittag bekannte sich niemand zu den Anschlägen. Allerdings hat bisher einzig die islamistische Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria Selbstmordattentate verübt. Zuletzt hatte sie zu Weihnachten christliche Kirchen in mehreren Regionen Nigerias angegriffen und dutzende Gottesdienstbesucher ermordet.
Bei weiteren Angriffen starben im Norden Nigerias am Ostermontag weitere sieben Menschen.
Seit dem Jahreswechsel werden beinahe täglich überall in Nigeria neue Angriffe der islamistischen Sekte verübt oder vereitelt. Seit Beginn des Terrors im Sommer 2009 hat die Boko Haram nach Angaben der Organisation "Human Rights Watch" über 900 Menschen getötet. Die Sicherheitskräfte töteten ihrerseits eine ähnlich hohe Zahl mutmaßlicher Boko-Haram-Mitglieder.
Ihre letzte große Angriffsserie starteten die Islamisten am 20. Januar 2012 in der nordnigerianischen Metropole Kano, der zweitgrößten Stadt des Landes. Bei den Bombenanschlägen und Überfällen auf Polizeistationen und andere staatliche Einrichtungen starben mindestens 185 Menschen. Wenige Tage später entführte vermutlich eine Splittergruppe von Boko Haram den deutschen Bauingenieur Edgar Raupach am Stadtrand von Kano. Er wurde offenbar dem Terrornetzwerk Al-Kaida im Maghreb (AQMI) übergeben, das mit ihm als Geisel eine in Deutschland inhaftierte Islamistin freipressen will.
Dschihad made in Nigeria
Boko Haram – in der Haussa-Sprache bedeutet das soviel wie "westliche Bildung ist verboten". Die Gruppe sieht sich selbst als Opfer von Polizeigewalt und Verfolgung. "Diese Tyrannen in der Regierung. Sie kümmern sich doch nur um sich selbst und ihre Kinder und deshalb kämpfen wir den Dschihad", sagte ein Boko-Haram-Kämpfer, der namentlich nicht genannt werden will, der Deutschen Welle. "Wir sind sehr jung und haben geschworen, bis zum Ende weiterzumachen. Entweder machen sie uns fertig - oder wir sie!"
Ziele der Sekte - daraus machen ihre Mitglieder kein Geheimnis - sind der Sturz der Regierung und die Errichtung eines islamischen Scharia-Staates. Als Mohammed Yusuf die Gruppe Anfang 2002 nach dem Vorbild der afghanischen Taliban gründete, hatte sie nur wenige hundert Mitglieder. Inzwischen sind es nach Schätzungen von Experten mehrere tausend – gut ausgebildet und diszipliniert. Doch viel mehr ist nicht bekannt über die Islamisten mit den Kalaschnikows. Keiner weiß genau, woher sie ihre Waffen beziehen und wo die Kämpfer das Bombenbauen gelernt haben.
Nigerias Behörden verdächtigen die Nachbarstaaten. Von hier aus sollen angeblich immer neue Rekruten ins Land gelangen. "Die Grenzen zum Niger, Tschad und zu Kamerun sind sehr durchlässig, Boko Haram kann sich dort problemlos bewegen", sagt Abubakar Mu'azu, politischer Analyst aus Maiduguri, einer Hochburg der Terrorgruppe im nördlichen Bundesstaat Borno. Viele Migranten in Nigeria stehen unter Generalverdacht: In den vergangenen sechs Monaten haben die nigerianischen Migrationsbehörden nach eigenen Angaben 11.000 Menschen ausgewiesen, vor allem Bürger aus dem Niger und Tschad. Doch die meisten der Abgeschobenen seien Kinder und Jugendliche, die in Nigeria Koranschulen besuchten, sagen Menschenrechtler.
Terrornetzwerk bis nach Afghanistan
Die Anschläge werden immer professioneller, immer öfter jagen sich Selbstmordattentäter in die Luft. Laut einem UN-Bericht unterhält Boko Haram Kontakte zum Terrornetzwerk Al-Kaida im Maghreb (AQMI) und bedient sich aus den Rüstungsbeständen des gestürzten libyschen Diktators Gaddafi. Einige Mitglieder von Boko Haram aus Nigeria und Tschad seien im vergangenen Sommer zur Ausbildung in AQMI-Lagern in Mali gewesen, heißt es in dem UN-Papier. "Einzelne Mitglieder haben angedeutet, dass sie in Somalia, Afghanistan und Mauretanien ausgebildet werden. Es geht hier also nicht nur um die Maghreb-Region, sondern um ein viel größeres Netzwerk", sagt Analyst Abubakar Mu'azu. Diese Verbindung müsse ernst genommen werden, denn sie könnte zu einer Bedrohung für die internationale Sicherheit werden, so Mu'azu. Die Nachrichtenagentur AFP meldete Ostern außerdem, dass mehrere dutzend Boko-Haram-Kämpfer an der Besetzung der von Tuareg und Islamisten eroberten malischen Stadt Gao beteiligt seien.
Nigerias Regierung unter Präsident Goodluck Jonathan setzt auf erhöhte Militärpräsenz und verschärfte Sicherheitskontrollen. "Das macht mir wirklich Sorgen", sagt Terror-Experte Mu'azu. "Statt immer nur mit Gewalt zu reagieren, sollte die Regierung endlich beginnen, mit Schlüsselfiguren der Gruppe zu verhandeln." Genau das empfiehlt auch ein von der Regierung eingesetztes Sonderkomitee zur Boko Haram. Bedingung sei jedoch, dass die Terrorgruppe der Gewalt abschwöre, heißt es in einem Weißbuch des Sonderkomitees. Alle bisher gestarten Vermittlungsversuche verliefen jedoch im Sand. In dem Weißbuch steht auch: Die Regierung müsse künftig mehr gegen die hohe Arbeitslosigkeit im Norden tun. Denn die Armut und der ungleich verteilte Wohlstand im Land treiben den Rebellen die Unterstützer in die Arme. Im Norden des Landes, der Hochburg von Boko Haram, leben zwei Drittel der Bevölkerung von weniger als einem US-Dollar am Tag – und das, obwohl Nigeria zu den größten Ölproduzenten der Welt gehört.