"Pakistan bleibt ein Unsicherheitsfaktor"
5. Juni 2012Deutsche Welle: Die NATO hat mit den drei zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan ein Abkommen über die Nutzung von Transitstrecken für den Abzug von Militärmaterial aus Afghanistan geschlossen. Kann dieses Abkommen als eine weitere Stufe der Eskalation zwischen USA und NATO einerseits und Pakistan andererseits gedeutet werden?
Jochen Hippler: Ich glaube, dass dieses Abkommen eine doppelte Funktion hat: Einerseits dient es dazu, Pakistan diplomatisch unter Druck zu setzen, um Pakistan zu zeigen, dass man den Abzug auch ohne Pakistan und ohne sein Staatsgebiet organisieren kann. Zweitens hat NATO nun eine Alternativroute für den Fall, dass sich die Beziehungen zu Pakistan nicht verbessern.
Pakistan verlangt für die Öffnung seiner Grenzen viel Geld von der NATO. Ein Erpressungsversuch durch Islamabad?
Ja, das kann man sicher so sagen. Allerdings, wenn Sie sich in die pakistanische Situation hineinversetzen, sieht die Sache ein kleines bisschen anders aus. Die pakistanische Regierung ist der Ansicht, dass ihr Land einen sehr hohen innenpolitischen Preis wegen der Zusammenarbeit mit USA und NATO in den letzten zehn Jahren bezahlt hat. Das hat zur Gewaltwelle und Destabilisierung des eigenen Landes beigetragen, die seit 2002 in Pakistan herrschen. Diese Zusammenarbeit hat auch die Regierung in den Augen der Bevölkerung wesentlich diskreditiert.
Insofern glaube ich, dass die Regierung sich innenpolitisch in einer gewissen Zwangssituation befindet: Sie ist prinzipiell bereit, der NATO beim Abzug aus Afghanistan zu helfen, sie möchte aber auch der eigenen Bevölkerung zeigen, dass man wenigstens für das eigene Land möglichst viel herausgeholt hat. Vor diesem Hintergrund ist die pakistanische Position nicht ganz unverständlich.
Die USA vertiefen derzeit ihre Beziehungen zu Islamabads Erzfeind Indien. US-Verteidigungsminister Panetta ist zu Besuch in Neu Delhi. Pakistan muss diese Entwicklung beunruhigen.
Das ist sicher richtig. Mit dem Ende des Afghanistankrieges verliert Pakistan für die US-Außenpolitik an Bedeutung. Auf der anderen Seite begreifen die USA die aufstrebende Wirtschaftsmacht Indien immer mehr als einen langfristigen strategischen Partner in der Region. Indien ist hinter China die potenziell nächste wirtschaftliche Supermacht. Da sehen die USA bei einer Zusammenarbeit mit Indien sehr viele Vorteile für die eigene Wirtschaft.
Haben die USA nur wirtschaftliche Interessen bei einer Zusammenarbeit mit Indien?
Nicht nur. Die USA sehen in Indien ein regionales Gegengewicht zu China. Vor diesem Hintergrund ist auch die neue militär- und außenpolitische Strategie Washingtons zu verstehen, die jetzt stärker auf den asiatisch-pazifischen Raum setzt. Die USA wollen, wenn das auch öffentlich nicht gesagt wird, den Einfluss Chinas in der Region begrenzen. Zu diesem Zweck ist natürlich Indien ein attraktiver Partner, während Pakistan erstens ökonomisch zu unbedeutend ist und zweitens über gute Beziehungen zu China verfügt. Also das Ende des Afghanistankrieges und die zunehmende Bedeutung Indiens als globale Wirtschaftsmacht führen dazu, dass die amerikanische Außenpolitik deutlich zu Gunsten Indiens ausfällt.
Wird sich nun Pakistan noch stärker an China binden? Wenn ja, kann das im Sinne der USA sein?
Pakistan hatte auch in der Vergangenheit gute Beziehungen zu China gehabt, doch Pakistans wichtigster internationaler Partner waren die USA. Jetzt, da China immer mehr zu einer wirtschaftlichen und militärischen Supermacht heranwächst, wird Pakistan verstärkt auf die chinesische Karte setzen. Diese Entwicklung wird für die USA aber ein begrenzter Rückschlag sein. Also wenn man Indien gewinnt und Pakistan verliert, ist es insgesamt immer noch eine Stärkung der amerikanischen Position.
Allerdings weise ich daraufhin, dass die größte Sorge der internationalen Gemeinschaft nicht die außenpolitische Orientierung Pakistans als Atommacht sein sollte, sondern die innere Instabilität des Landes, die Stagnation der politischen Entwicklung, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Energiesektor, in der Landwirtschaft und anderen Bereichen. Pakistan ist eher durch die Unfähigkeit der eigenen Eliten bedroht, durch die Schwierigkeit, sich fortzuentwickeln. Die Stagnation führt zur Instabilität. Das scheint mir auch für die USA und insgesamt für die Welt langfristig oder mittelfristig eine wesentlich größere Bedrohung zu sein als die außenpolitische Orientierung Pakistans.
Dr. Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und Privatdozent am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) an der Universität Duisburg-Essen.