"Panik der Finanzmarktakteure völlig überzogen"
25. Oktober 2002DW-WORLD: Sehen Sie, dass ein Sieg "Lulas" bei der zweiten Runde der brasilianischen Wahlen, am 27.10, die marktliberale Reformpolitik des heutigen Präsidenten Cardoso in der Richtung verändert?
Peter Rösler: Eine Änderungen der marktwirtschaftlichen Grundrichtung erwarte ich nicht, zumal "Lula" auf die Unterstützung durch andere Parteien angewiesen sein wird. Es wird aber zu Akzentverschiebungen u.a. zugunsten des sozialen Bereichs kommen. Außerdem könnten die Privatisierungsbedingungen in eine restriktivere Richtung abgeändert werden. In der Außenwirtschaftspolitik könnte die Forderung nach Fairness in den Handelsbeziehungen mehr praktische Auswirkungen haben.
Wie hoch schätzen Sie nach den ökonomischen Rahmenbedingungen das Risiko eines brasilianischen Staatsbankrotts (nach dem "Argentinien-Modell") ein, unabhängig vom Wahlergebnis?
Einen Staatsbankrott halte ich für unwahrscheinlich, da sich Brasilien grundsätzlich von Argentinien unterscheidet - nicht zuletzt dadurch, daß es ein Industrieland mit einer ausgewogenen Wirtschaftsstruktur ist sowie über einen freien Devisenmarkt und eine vorbildlich funktionierende Zentralbank verfügt. Das bedeutet nicht, daß alle Indikatoren der brasilianischen Wirtschaft, wie die hohe Verschuldung, befriedigen. Wirklich besorgniserregend sind sie aber vor dem Hintergrund des heutigen brasilianischen Wirtschaftspotentials nicht. Darüber hinaus gehört Brasilien zu der kleinen Gruppe von Ländern, die in dieser Welt strategische Bedeutung haben. Es ist kaum wahrscheinlich, daß die internationale Staatengemeinschaft tatenlos zusehen wird, wenn die Finanzmarkt-Akteure durch das Absägen des Astes, auf dem sie sitzen, ganz Brasilien gefährden.
Sehen Sie grundsätzliche Unterschiede zwischen den Kandidaten José Serra und Luiz Inácio "Lula" da Silva für die deutsch-brasilianischen Verhältnisse?
Nein. Für die offiziellen Beziehungen dürfte es keine großen Unterschiede geben. Auch die deutschen Unternehmen in Brasilien haben klar erklärt, daß sie mit "Lula" gut leben können.
Warum ziehen die brasilianischen Wahlen dieses Jahr weltweit wesentlich mehr Aufmerksamkeit auf sich als in vergangenen Jahren?
Die dramatischen Auswirkungen der Argentinien-Krise haben die Wahrnehmung der Welt besonders für möglicherweise negative Geschehnisse in Lateinamerika geschärft. Angesichts der weltweiten Rezession wächst die Angst, dass Zusammenbrüche großer Länder einen Domino-Effekt auslösen könnten, der die Krise weltweit ausdehnen würde.
Inwiefern fürchtet die Weltwirtschaft ein Bankrott Brasiliens?
Nicht die Weltwirtschaft fürchtet den Bankrott Brasiliens, sondern die weltweiten Finanzmarkt-Akteure. Das ist ein großer Unterschied. Direktinvestoren (haben) in den ersten sieben Monaten des Jahres ihr Engagement gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum um fünf Prozent auf acht Milliarden US-Dollar erhöht. Das bedeutet, die Direktinvestoren haben weiterhin großes Vertrauen in Brasilien.
Reagieren die Märkte unbegründet nervös auf einen möglichen Sieg "Lulas"?
Die Panik der internationalen Finanzmarkt-Akteure ist völlig überzogen. Die Finanzmarktanleger befürchten, daß sich auf dem wichtigen Markt Brasilien die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen für sie nach einem möglichen Wahlsieg "Lulas" drastisch verschlechtern könnten. Der Präsidentschaftskandidat "Lula" wurde regelrecht zum anti-marktwirtschaftlichen Schreckgespenst aufgebaut. Allerdings hat bisher keiner der infrage kommenden Finanzmarktexperten eine stichhaltige Begründung zur Rechtfertigung dieser düsteren Prognosen liefern können.