Benedikt XVI. rechnet ab
9. September 2016Es ist ein Gespräch mit Sprengstoff. Da stellt jemand der katholischen Kirche in Deutschland ein ziemlich mäßiges Zeugnis aus. Beklagt überzogene Bürokratie und "hochbezahlten Katholizismus", bei dem eine "Gewerkschaftsmentalität" dominiere. Große Zweifel äußert er zum gegenwärtigen deutschen Kirchensteuersystem und außerdem: "Die automatische Exkommunikation derer, die sie nicht zahlen, ist meiner Meinung nach nicht haltbar."
Derjenige, der da schreibt, ist Benedikt XVI. Der seit dem 28. Februar 2013 emeritierte Papst aus Deutschland ist mittlerweile 89 Jahre alt. Er hat seinem wiederholten Gesprächspartner Peter Seewald erneut Rede und Antwort gestanden. Für den 62-jährigen Autor ging mit diesem Papst "eine Ära zu Ende, vielleicht sogar ein Zeitalter".
Blick zurück auf das eigene Pontifikat
"Benedikt XVI. Letzte Gespräche" ist etwas, das es in dieser Form nie gab. An diesem Freitag erscheint bei Droemer & Knaur der Rückblick eines Kirchenoberhaupts auf sein Pontifikat, auch auf die Wahl seines Nachfolgers (wobei ihn die Entscheidung für Jorge Mario Bergoglio überraschte). Die Erinnerung an seinen Abschied vom Vatikan am Tage seines Rücktritts lässt den alten Mann weinen.
Vielfach ist es – wie bei nicht wenigen Werken Ratzingers – lesenswerte geistliche Lektüre. Manches ist für einen Papst wirklich selbstkritisch (oder auch kurienkritisch). Und beim Blick auf die katholische Kirche in Deutschland bricht die Distanz fast brutal auf, die der römische Kardinal Ratzinger gegenüber der ihm fremd gewordenen Kirche in seiner Heimat pflegte.
Das ist eine Abrechnung, die unpäpstlich wirkt. Und man erinnert sich: Bis 2013 waren für einen Papst, der menschenscheu wirkte, professoral geschliffene Worte wichtig. Seitdem dominieren beim nächsten Papst, Franziskus, direkte Ansprache, Gesten der Herzlichkeit und eine Direktheit des Umgangs.
Reden statt schweigen
Bei der Ankündigung seines Rücktritts hatte Benedikt gesagt, er wolle "auch in Zukunft der Heiligen Kirche Gottes mit ganzem Herzen durch ein Leben im Gebet dienen". Enge Begleiter wie der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer, der das theologische Gesamtwerk des Papstes aus Deutschland herausgibt, waren sich sicher, dieser werde nie wieder publizieren, ja, er werde "nicht ein Wort veröffentlichen können". So kann sich also auch ein Bischof täuschen.
Benedikt schildert seine Gedanken und Bedenken, die zu seinem Rücktritt führten. Und er weist fast mit Empörung zurück, er wäre wegen einer Erpressung oder Verschwörung – Stichwort Vatileaks – abgetreten. Überhaupt, die Skandale. Benedikt spricht von "viel Schweres in der Zeit" und nennt neben Vatileaks auch den Pädophilie-Skandal und den Fall Williamson.
Unheilige Allianzen
Mit Blick auf die Rehabilitierung des Holocaust-Leugners Richard Williamson 2009 spricht Benedikt von einer "riesigen Propagandaschlacht" gegen sich. Und Benedikt äußert sich auch zu dem Phänomen einer "Schwulen-Lobby" im Vatikan, von der Papst Franziskus wenige Monate nach seiner Wahl sprach.
"Es wurde mir in der Tat eine Gruppe angezeigt, die haben wir inzwischen aufgelöst", sagt Benedikt, "eine kleine, vier, fünf Leute vielleicht…Ob sich wieder was bildet, weiß ich nicht. Jedenfalls ist es nicht so, dass es von solchen Sachen wimmeln würde."
Aber eher als diese Skandale treibt ihn der "Glaubensschwund" um, gerade in Europa. Da sei es gut, dass der Kontinent "von außen her neu missioniert" werde. Und für Franziskus gelte: "Eine neue Frische in der Kirche, eine neue Fröhlichkeit, ein neues Charisma, das die Menschen anspricht, das ist schon etwas Schönes."
Blick zurück im Zorn
Benedikt, politisch übrigens "nach wie vor ein überzeugter Adenauerianer", legt auch seine kritische Sicht auf die Kirche in Deutschland offen. "In Deutschland haben wir diesen etablierten und hochbezahlten Katholizismus, vielfach mit angestellten Katholiken, die dann der Kirche in einer Gewerkschaftsmentalität gegenübertreten. Kirche ist für sie nur der Arbeitgeber, gegen den man kritisch steht."
Papst-Bücher gehen sehr gut, wie man so sagt. Peter Seewald legt nach "Salz der Erde" (1996), "Gott und die Welt" (2000) und "Licht der Welt" (2010) nun binnen 20 Jahren das vierte Interviewbuch mit Joseph Ratzinger beziehungsweise Benedikt XVI. beziehungsweise dem emeritierten Papst vor. Die deutsche Startauflage beträgt nach Verlagsangaben 50.000. Parallel erscheint das Buch in Übersetzungen in Brasilien, Kroatien, Frankreich, Ungarn, Italien, Libanon, Polen, Spanien, Großbritannien, Portugal und Slowenien.
Da geht es auch um ein Geschäft mit vielen Auflagen in diversen Sprachen. Und auch bei Franziskus, seit dreieinhalb Jahren im Amt, gibt es schon mehrere große schriftlich veröffentlichte Interviews, auch theologische oder flapsig-bunte Textsammlungen. Die papst-üblichen offiziellen Lehrschreiben finden auch ihre Leser. Aber selbst die textlich so beeindruckenden Enzykliken Benedikts zu "Liebe" und "Hoffnung", die weit über dem üblichen sprachlichen Niveau sonstiger Lehrschreiben liegen, werden wohl seltener gelesen. So beugen sich Päpste einem Trend der Moderne, an Büchern mitzuwirken.
Die Liebe in seinem Leben
Und sich vielen Fragen zu stellen. Es bleibt die letzte Frage, die letzte Antwort. "Wo war die Liebe in Ihrem Leben?", fragt da Seewald. "Wie haben Sie die Liebe verspürt, verkostet, mit tiefen Gefühlen erlebt? Oder war das eher eine theoretische, philosophische Sache?"
"No. Nein, nein", entgegnet Benedikt entschieden. "Wenn man es nicht verspürt hat, kann man auch nicht darüber reden." Und er nennt die Eltern, die Geschwister. "Und, na ja, da möchte ich jetzt nicht in private Details einsteigen, jedenfalls bin ich davon angerührt worden, in verschiedenen Dimensionen und Formen…"
Das ist deutlich. Dem Autor wohl nicht deutlich genug, vielleicht auch nicht platt genug. "Ja, da gab es eine Verliebtheit in seinem Studium, die sehr ernst war", sagt er in einem seiner diversen Interviews zur Vermarktung des Buches. "Das hat ihm schwer zu schaffen gemacht. Die Entscheidung für den Zölibat ist ihm nicht leichtgefallen." Das ist doch schon eher die Wortwahl, die der Boulevard heute lesen will.
Es gibt Aussagen in diesem Buch, denen spürt man das gelassene Zugehen auf einen vielleicht nahen Tod an. Da spricht jemand, der mit seinem "Herrn im Reinen" ist, "wirklich". "Mitarbeiter der Wahrheit", das hätte Benedikt gern auf seinem Grabstein stehen. Eine Formulierung aus dem Neuen Testament, dem dritten Johannesbrief. "Die Wahrheit hat uns, sie hat uns berührt. Und wir versuchen, uns von dieser Berührung leiten zu lassen", sagt er.