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Der Stimmenfresser

Volker Wagener25. September 2013

Das gab es noch nie: Fast sieben Millionen Deutsche gaben ihre Stimme ab, ohne auf die Zusammensetzung des Bundestags Einfluss zu haben. Das sind fast 16 Prozent aller abgegebenen Stimmzettel. Wie ist das möglich?

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Stimmabgabe bei der Bundestagswahl 2013 - Foto: Kai Pfaffenbach (Reuters)
Bild: Reuters/Kai Pfaffenbach

Der Stein des Anstoßes: Paragraf 6 Absatz 3 des Bundeswahlgesetzes. Er legt fest, dass eine Partei mindestens fünf Prozent der abgegebenen Zweitstimmen (Direktstimme für die Partei) für sich verbuchen muss, um Sitze im Bundestag zu bekommen. Die Regelung sorgt nun für einen extremen Wahlausgang: Nie zuvor landeten so viele Stimmen "im Papierkorb" wie am vergangenen Sonntag (22.09.2013).

4,8 Prozent für die FDP, Angela Merkels bisheriger Koalitionspartner - und kein einziger FDP-Abgeordneter im Bundestag. Zwar war auch die Euro-kritische AfD (Alternative für Deutschland) aus dem Stand sehr erfolgreich. Die erst im Februar gegründete Partei kam auf 4,7 Prozent der Stimmen. Doch auch sie verpuffen wirkungslos. Ebenso die Stimmen für die Piraten, die Tierschutzpartei oder die "Rentner" und für mehr als zwei Dutzend Splitterparteien. Wertlose Stimmen sozusagen.

Zum Vergleich: Seit der Deutschen Einheit 1990 waren es in den sechs zurückliegenden Bundestagswahlen durchschnittlich nur rund fünf Prozent aller Stimmen, die bei der Sitzverteilung nicht gewertet wurden, weil sie auf Parteien fielen, die unterhalb der Fünfprozenthürde blieben. Doch diese "Stimmen ohne Gewicht" haben sich diesmal verdreifacht. Nun regt sich Protest gegen das Wahlgesetz aus dem Jahre 1949.

Eine undemokratische Regelung?

Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Christian Ströbele - Foto: Maurizio Gambarini (dpa)
Christian Ströbele (Grüne): "Demokratierechtlich bedenklich"Bild: picture-alliance/dpa

Umstritten ist die Fünfprozenthürde schon länger. Christian Ströbele, einziger Grünen-Politiker, der jemals ein Direktmandat für seine Partei gewinnen konnte, hält den Paragrafen für "demokratierechtlich bedenklich". Ströbele macht sich für eine Absenkung der Klausel auf drei oder sogar auf zwei Prozent stark. Der erfahrene Jurist kritisiert damit indirekt die Richter des Bundesverfassungsgerichtes. Die hatten bislang die Fünfprozentklausel als Garantie für ein funktionsfähiges Parlament eingestuft. Dies sei als höheres Gut anzusehen als die exakte Widerspiegelung des politischen Willens der Wähler.

Die Ansicht der obersten deutschen Richter vertritt auch Wolfgang Bosbach, der langjährige stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU: "Die Fünfprozentklausel ist eingeführt worden aufgrund der Erfahrungen in der Weimarer Republik, als es keine Sperrklausel gab. Damals waren teilweise bis zu 17 Parteien im Parlament vertreten, was Regierungsbildung und stabile Regierungsmehrheiten für die Dauer einer Wahlperiode fast unmöglich gemacht hat."

Wolfgang Bosbach, Vorsitzender des Innenausschusses des Bundestags (CDU) - Foto: Karlheinz Schindler (dpa)
Wolfgang Bosbach (CDU): "Hohe Hürde ist historisch berechtigt"Bild: picture-alliance/dpa

Es gehe ja im Kern darum, eine stabile Mehrheit bilden zu können, die über eine ganze Legislaturperiode von vier Jahren Bestand hat. Kurz: Kleinere Parteien oder Kleinstparteien sollten keinen überproportional großen Einfluss auf die Regierungsbildung erlangen können, sagte Bosbach der Deutschen Welle.

Diskussion um eine Wahlrechtsreform

Die Angst vor einer Zerfaserung der Parteien-Landschaft mit unregierbaren Verhältnissen ist zwar historisch bedingt, doch lehrt die jüngere Geschichte gerade das Gegenteil. Für den Bonner Staatsrechtler Ulrich Battis ist die Zeit längst reif für eine Korrektur des Wahl-Paragrafen. Deutschland sei seit über 60 Jahren eine stabile Republik und die Fünfprozentklausel sei ja schon auf Gemeindeebene längst abgeschafft. Battis sieht in der aktuellen Praxis ein klares Demokratie-Defizit. Sieben Millionen Menschen, deren Stimme überhaupt keine Auswirkung habe - das sei doch mit dem Grundsatz der Demokratie nur schwer vereinbar.

FDP-Spitzenvertreter Philipp Rösler und Rainer Brüderle - Foto: John MacDougall (AFP)
FDP-Spitzenvertreter Philipp Rösler und Rainer Brüderle: An der Fünf-Prozent-Hürde gescheitertBild: Getty Images

Und Battis steht mit dieser Einschätzung nicht allein. Der Bonner Politologe Frank Decker spricht von einer Einschränkung der Gleichheit bei der Wahl. Die gängige Praxis ist für ihn mindestens fragwürdig. Und auch der Verfassungsrechtler Hans-Peter Schneider sieht Handlungsbedarf für das höchste deutsche Gericht.

Fazit: Einerseits sind die Parteien, die fast sieben Millionen Deutsche gewählt haben, nicht im Parlament vertreten und andererseits vergrößert sich dadurch auch noch die Macht der erfolgreichen Parteien. "Doppelte Verlierer" nennt der Politologe Hans Herbert von Arnim diese Wähler.

Fünfprozentklausel provoziert taktisches Wahlverhalten

Darüber hinaus verweisen die Fünfprozent-Kritiker auf eine gewisse Verzerrung der Wählerinteressen. Wer sich vor allem für die Belange von Rentnern interessiert, wird im Zweifel doch eher seine Stimme einer etablierten Partei geben in der Hoffnung, dass sein Standpunkt zumindest in abgeschwächter Form Berücksichtigung findet. Kleinere Parteien haben so kaum eine Chance zu wachsen. Die Angst vor der Fünfprozenthürde verursacht somit ein taktisches Wahlverhalten an der Urne.

Finanziell kann es sich für deutsche Kleinparteien aber dennoch lohnen, an einer Bundes- oder Landtagswahl teilzunehmen. Auch wenn es am Ende nicht für eine Fünf als erste Ziffer im Wahlergebnis gereicht hat, darf sich der Schatzmeister der Partei zumindest über Geld aus der Staatskasse freuen.

Diese "Wahlkampfkostenerstattung" kann manchmal tröstend wirken, zumal es sie bei Bundestagswahlen schon für alle gibt, die mindestens 0,5 Prozent der Stimmen erhalten haben. Und das waren bei dieser Wahl zehn Parteien. Die Euro-Kritiker der AfD etwa, jetzt zum ersten Mal angetreten, dürfen sich nun über 1,7 Millionen Euro freuen - und zwar in jedem Jahr bis zur nächsten Bundestagswahl.