Paralympics 2018: Weckruf für Südkorea?
14. März 2018Die Schlange am Südeingang ist schon am Vormittag beachtlich. Es hat sich herum gesprochen, dass in der Küstenstadt Gangneung eine Sportart aufgetaucht ist, bei der Rollstuhlfahrer mit einem Stab einen Stein übers Eis schieben. Seniorengruppen reihen sich ein, ebenso Schulklassen und junge Väter mit ihren Kindern. Sie möchten zum Curling - und sie möchten ein Teil der Winter-Paralympics sein.
Es sind die zweiten Weltspiele des Behindertensports in Südkorea. Nach zwanzig Jahren Militärdiktatur waren die Sommer-Paralympics 1988 in Seoul auch eine Bühne der Zivilgesellschaft in der jungen Demokratiebewegung gewesen. Dreißig Jahre später ist nun die Winterausgabe in einer der modernsten Industrienationen zu Gast. "Die Paralympics werden die Wahrnehmung in Südkorea auf Menschen mit Behinderung positiv beeinflussen", sagt Stephan Auer, deutscher Botschafter in Seoul. Und man darf hinzufügen: Das ist durchaus nötig.
Bewusstseinswandel konnte nicht mit Wirtschaftswachstum Schritt halten
Denn über Jahrzehnte standen behinderte Menschen in Korea meist am äußeren Rand, erzählt der südafrikanische Forscher Casper Claassen, der Koreanische Geschichte und Kultur studiert hat. Zum einen, weil die Prägungen durch Konfuzianismus und Klassendenken die Unterschiede zwischen Menschen nicht als Diskriminierung, sondern als Normalität auslegen. Zum zweiten, weil im ebenfalls einflussreichen Buddhismus Behinderungen auch als Strafe für ein früheres Leben gelten. Und zum dritten, weil die japanische Kolonialmacht bis 1945 an eine "starke und makellose Rasse" glaubte.
Mittlerweile sind Nahverkehr und öffentliche Gebäude meist barrierefrei, doch die mächtigen Konzerne nehmen oft Bußgelder in Kauf, um Einstellungsquoten für behinderte Menschen zu vermeiden. Laut Casper Claassen habe der Bewusstseinswandel nicht mit dem Wirtschaftswachstum Schritt halten können. Die zu achtzig Prozent privat organisierten Hochschulen bereiten junge Menschen auf einen wettbewerbsorientierten Alltag vor. Nicht jeder kann da mithalten: Die Armutsrate unter Menschen mit Behinderung liegt weit über dem Durchschnitt.
Sanfter Druck auf Gesetzgebung
Die Paralympics können mehrere Ziele fördern, glaubt Andrew Parsons, der neue Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC). "Unsere Topathleten können die Sichtbarkeit behinderter Menschen in der Gesellschaft stärken. Und sie üben einen sanften Druck auf Gesetzgebung und Strukturentwicklung aus." Vergangene Woche stellte die südkoreanische Regierung die Abschaffung eines umstrittenen Gesetzes in Aussicht. In der Regel wurden Menschen mit Behinderung in sechs Kategorien eingeordnet, je nach Schweregrad. Viele fühlten sich stigmatisiert. Zudem kündigte Sportminister Do Jong Hwan eine Investition von umgerechnet 14 Millionen Euro in die Modernisierung von Sportstätten an. Überdies solle eine Kampagne mehr als 500.000 Menschen mit Behinderung zum täglichen Sporttreiben animieren.
Regierung und Medien waren offenbar selbst überrascht von den gut gefüllten Rängen bei den Paralympics, vor allem beim Curling und Schlittenhockey. Das IPC vermeldete einen Zuschauerrekord für Winterspiele und das öffentlich-rechtliche Fernsehen erhöhte nach dem ersten Wochenende seine Sendezeit.
Abseits der Kameras ergaben sich Begegnungen, die bei den überladenen Olympischen Spielen vielleicht nicht möglich gewesen wären. Mitglieder der nordkoreanischen Delegation waren am Samstag zu Besuch im "Alpenhaus", in dem Gäste aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ihre Wettkampftage ausklingen lassen. Der Nordkoreanische Behindertensportverband hat neben seiner Zentrale in Pjöngjang auch zwei Büros in China. "Über den Sport können sich Gesprächskanäle öffnen", sagt Stefan Samse, Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Seoul.
"Beleidigung für das Regime"
Im Kontrast zur ersten und vielfach gelobten Premiere Nordkoreas bei Winter-Paralympics stehen Aussagen von geflohenen Nordkoreanern und Berichte von NGO's: So gelten behinderte Menschen in Nordkorea als "Beleidigung" für das Regime". Sie würden ausgeschlossen, sterilisiert und sogar in abgelegenen Gebirgslagern gefoltert werden. Säuglinge mit einer Behinderung blieben "verschwunden". Auch von medizinischen Experimenten und chemischen Tests ist die Rede.
Im vergangenen Jahr durfte erstmals eine unabhängige Delegation für Forschungen ins Land reisen. Die UN-Sonderberichterstatterin Catalina Devandas-Aguilar besuchte auch ein Tischtennisturnier, an dem behinderte und nichtbehinderte Spieler teilnahmen. Sie kann nicht ausschließen, dass es sich um eine Alibiveranstaltung handelte. Während ihres sechstägigen Aufenthaltes habe sie blinde und hörgeschädigte Menschen getroffen, aber nur einen einzigen Rollstuhlfahrer.
Welche Spuren die Paralympics in den Koreas hinterlassen, wird sich wohl erst in einigen Jahren zeigen. "Die Sommerspiele 1988 waren jedenfalls ein Meilenstein", sagt Karl Quade, Chef de Mission der deutschen Paralympier. Eine Wiederholung im Land des paralympischen Aufbruchs hält er nicht für ausgeschlossen.