Demo in Paris: Beginn von etwas Größerem?
16. Oktober 2022Demonstrationen sind in Frankreich in der Regel eng getaktet. Es gibt einen Treffpunkt, eine Uhrzeit, zu der die Prozession loszieht, einen Ort und eine ungefähre Uhrzeit der Ankunft. Doch an diesem Sonntag verzögert sich der sogenannte "Marsch gegen hohe Lebenskosten und die Untätigkeit der Regierung gegen den Klimawandel". Über eine Stunde drängeln sich Tausende Menschen am Place de la Nation im Nordosten von Paris, warten mehr oder weniger geduldig, bis die Wagen der Organisatoren, des Linksbündnisses Nupes (Nouvelle Union Populaire Ecologique et Sociale), endlich langsam in Richtung Place de la République losfahren. Als ob ein unterschwelliges Unbehagen sich so langsam aufgebaut hat und dann schließlich, mit dem Marsch, an Fahrt gewinnt. Dass diese Beschleunigung auch nach der Demonstration weitergeht, hoffen seine Teilnehmer. Beobachter sagen, die Aktion könnte tatsächlich der Beginn einer neuen Protestbewegung sein – zumindest unter gewissen Voraussetzungen.
"Wir wollen zusammen gegen die Regierungspolitik kämpfen. Schließlich nehmen sie den Ärmsten immer mehr weg", schreit Vincent Gay von der Ladefläche eines Kleinlasters aus in ein Mikrofon. "Ja", ruft die Menge vor ihm zurück. "Wir werden an allen künftigen Widerstandsaktionen teilnehmen", sagt das Mitglied der Nichtregierungsorganisation für mehr soziale und Umweltgerechtigkeit Attac kurze Zeit später zur DW. Dann fügt der 46-jährige Soziologiedozent hinzu, dass es bei dieser Demonstration um höhere Lohne, Preisdeckel für bestimmte Grundnahrungsmittel und eine radikale Bekämpfung des Klimawandels gehe.
Die Hoffnung auf einen "Zusammenschluss der Kräfte"
Die Organisatoren der Marsches fordern außerdem die Rente mit 60 anstelle von momentan 62 Jahren und ein Grundeinkommen für junge Leute. Attac hat sich der Initiative Nupes angeschlossen – genauso wie zahlreiche andere Nichtregierungsorganisationen. Gewerkschaften haben nicht offiziell zu Demonstration aufgerufen, selbst wenn vereinzelte Mitglieder an diesem Sonntag in Paris mitlaufen. Zu dem Linksbündnis Nupes gehören die Linksaußen-Partei La France Insoumise (LFI), die sozialistische Partei PS, die Grünen und die kommunistische Partei. Sie alle hatten sich für die Parlamentswahlen in diesem Sommer zusammengeschlossen. Der ehemalige LFI-Präsidentschaftskandidat der Nupes, Jean-Luc Mélenchon ist ganz vorne dabei bei den Demonstrierenden. Er meint, dass der Marsch der Anfang eines bisher nicht gesehenen neuen Protestzyklus in Frankreich sei. "Sie werden eine Woche wie keine andere erleben, das ist der große Zusammenschluss der Kräfte", sagt er den Medien. Dann erklärt er die Demonstration zum Erfolg – und schätzt die Teilnehmerzahl auf 140.000. Die Polizei spricht später von etwa 30.000.
Am kommenden Dienstag wollen mehrere Gewerkschaften streiken – unter anderem die der Lehrer, des Energiesektors, die der Bahngesellschaft SNCF und der RATP, die die Pariser Metro betreibt. Zuvor gab es wochenlange Streiks für höhere Löhne an fast allen französischen Raffinerien, was inzwischen zu höheren Spritpreisen und Benzinengpässen in ganz Frankreich geführt hat. Bei den Gewerkschaftsaktionen geht es zunächst um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Die Regierung befürchtet auch eine sich ausweitende Protestbewegung in Hinsicht auf eine geplante Rentenreform, die das Pensionsalter von 62 auf bis zu 65 erhöhen könnte.
"Ein tiefes Gefühl der Ungerechtigkeit"
Bruno Cautrès ist Politologe am Hochschul-Institut für politische Studien in Paris. Er meint, die Demonstration an diesem Sonntag könnte tatsächlich der Beginn von etwas Größerem sein. "Die Anzahl der Teilnehmer ist durchaus beachtlich", sagt er der DW. "Das zeigt, dass viele Menschen ein tiefes Gefühl der Ungerechtigkeit haben – auch weil sie sehen, dass manche viel mehr verdienen als andere." Das hätten paradoxerweise auch die Verhandlungen an den Raffinerien gezeigt – den Arbeitern dort wird man Tausende Euro Boni gewähren. "Vielleicht hat unter anderem das das Volk erzürnt", fügt Cautrés hinzu.
Von einem "sehr schwierigen sozialen Klima" spricht auch die Historikerin Danielle Tartakowsky, die sich auf Protestbewegungen spezialisiert hat. "Seit ein paar Monaten gibt es auf einmal immer mehr offensive Streiks in den Unternehmen, bei denen man höhere Löhne fordert anstatt sich gegen Sparmaßnahmen oder Ähnliches zu wehren wie bei defensiven Streiks", erklärt sie gegenüber DW. "Das ist durchaus ungewöhnlich." Es sei dennoch schwer abzuschätzen, ob dies schließlich zu einer regelrechten Protestbewegung führen werde - wie bei den sogenannten Gelbwesten, die ab November 2018 monatelang und landesweit für mehr soziale Gerechtigkeit demonstrierten. "Man weiß nie im Voraus, was der Funke sein kann für Generalstreiks wie in den 1960er und 1990er Jahren", fügt sie hinzu.
Wofür stehen die Demonstrationen?
Doch Ökonom Philippe Crevel, Chef und Gründer der Pariser Denkschmiede Cercle de l'Epargne, meint, Frankreichs Wirtschaft gehe es gar nicht so schlecht. "Die Inflation beträgt hier 5,6 Prozent im Vergleich zu durchschnittlich zehn in Europa", sagt er zu DW. "Das liegt vor allem daran, dass die Regierung den Anstieg der Strompreise für Haushalte begrenzt und Benzin subventioniert." So rechne man mit 0,5 bis 1 Prozent Wirtschaftswachstum für nächstes Jahr. Anderen Ländern - wie dem Nachbarn Deutschland - droht die Rezession. Für Crevel sind die Proteste deswegen hauptsächlich politisch. "Die Linke und die Gewerkschaften wollen Präsident Emmanuel Macron etwas entgegenhalten, aber ich glaube nicht, dass sie es schaffen werden, unter diesen Voraussetzungen eine landesweite Protestbewegung ins Rollen zu bringen", meint Crevel.
Aber dem widerspricht etwa Claudine Prioul, die mit ihrem Mann Gérard und einer Freundin, Colette Paris, aus dem nordwestlichen Département Mayenne für den Marsch angereist ist. Alle drei sind Mitglieder der linksgerichteten Gewerkschaft CGT. Die nun 70-Jährigen demonstrieren regelmäßig, seitdem sie 20 sind. "Wir müssen das politische System grundlegend ändern, damit nicht alles dem Markt unterworfen ist - und damit die Regierung wieder macht, was das Volk will", sagt Claudine Prioul der DW. "Es wird immer schwieriger, mit meiner Rente in Höhe von 1510 Euro über die Runden zu kommen." Ihr Mann fügt hinzu: "Auch die Bürger anderer Länder sollten auf die Straße gehen angesichts der steigenden Preise und sich von Frankreich eine Scheibe abschneiden. Wir Franzosen denken immer, wir erreichen nichts mit unseren Demonstrationen. Aber wenn man unsere Situation mit der anderer Länder, in denen niemand demonstriert, vergleicht, haben wir über die vergangenen Jahrzehnte sehr viel mehr gewonnen und weniger Rechte verloren", sagt er.