Parlamentswahl in Polen: Wer wird Zünglein an der Waage?
9. Oktober 2023Auf dem Wilson-Platz im Norden Warschaus steht Anna Radwan-Röhrenschef und verteilt Flugblätter. Eine Woche vor der Parlamentswahl in Polen wirbt die 45-jährige Soziologin um die Stimmen noch unentschlossener Wähler. Sie will sie für ihr christdemokratisches Wahlbündnis Dritter Weg (Trzecia Droga - TD) gewinnen, ein Zusammenschluss von drei kleinen Parteien. Neben ihr verteilt auch Katarzyna Piekarska Flugblätter. Sie macht Wahlwerbung für die Bürgerplattform von Oppositionsführer Donald Tusk. Beide Parteien wollen nach einem Wahlsieg zusammenarbeiten, um eine erneute Regierung unter der Führung der europaskeptischen und illiberalen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu verhindern. Für die beiden Frauen ist der Wilson-Platz kein einfaches Pflaster. Denn in der Nähe wohnt, von der Polizei streng bewacht, der Chef des rechtspopulistischen Regierungslagers, Jaroslaw Kaczynski. Die Besucher der Kostka-Kirche, deren Türme in der Nähe aufragen, beäugen die liberalen Kandidaten noch misstrauischer als sonst. Denn gerade haben die katholischen Bischöfe offiziell erklärt, dass ein Katholik keine Partei wählen kann, die die Abtreibung akzeptiert.
"Warschau mag ich gern, Europa liebe ich", sagt Anna Radwan-Röhrenschef. Genau darum macht sie Wahlkampf für den Dritten Weg und eine Neuausrichtung der polnischen Politik.
Dritter Weg oder dritter Sieg für Kaczynski?
Der Co-Vorsitzende der Gruppierung, die erst seit April existiert, Wladyslaw Kosiniak-Kamysz, hat den Satz geprägt: "Entweder kommt Dritter Weg ins Parlament oder Kaczynskis PiS hat die dritte Amtszeit in der Tasche."
"Diese Einschätzung teile ich voll", sagt Radwan-Röhrenschef beim Verteilen der Flugblätter. "Wir haben ein tolles Programm", versichert sie. Das Problem des Bündnisses, dem die Bauernpartei PSL und die neue Partei Polen2050 angehören, besteht darin, dass es sich programmatisch nur wenig von Donald Tusks Bürgerplattform PO unterscheidet.
Wegen ihres deutsch klingenden Namens muss die Kandidatin trotz der polnischen patriotischen Vergangenheit ihrer Familie seit Monaten mit Hassattacken im Internet kämpfen. Denn die Rechtspopulisten haben die antideutschen Ressentiments zum Eckpfeiler ihrer Wahlkampagne gemacht.
Dabei kann Dritter Weg nicht sicher mit einem Einzug ins Parlament rechnen. Als Wahlbündnis braucht die Gruppierung nicht fünf, sondern mindestens acht Prozent der Stimmen. In den Umfragen liegt sie mal darüber, mal darunter. Wenn das Bündnis an der Acht-Prozent-Hürde scheitert, steigen automatisch die Chancen der Regierungspartei PiS von Kaczynski auf eine dritte Amtszeit.
Tusk braucht zwei Koalitionspartner
Das Wahlergebnis der kleineren Parteien wird entscheiden, wer nach dem 15. Oktober 2023 die Regierung stellen kann. Denn die größte Oppositionspartei Bürgerplattform PO von Tusk, die bei dieser Wahl zusammen mit zwei kleineren Gruppierungen, darunter den Grünen, als Bürgerkoalition KO auftritt, kann Kaczynski nur dann von der Macht verdrängen, wenn Dritter Weg und die Neue Linke mit gutem Ergebnis ins Unterhaus (Sejm) kommen.
Laut Umfragen kann Tusks Partei mit etwa 30 Prozent rechnen - weniger als PiS, die auf 34-37 Prozent der Stimmen hoffen kann. Nur dann, wenn Dritter Weg und die Neue Linke je etwa 10 Prozent bekommen, kann die gesamte liberal-konservative Opposition die 231 benötigten Mandate im 460-Sitze-Parlament gewinnen.
Das hat auch Tusk inzwischen begriffen. Er hatte den Dritten Weg zunächst als lästige Konkurrenz, die ihm Wählerstimmen abnehmen könnte, bekämpft. Doch dann verstand er, dass ein gutes Ergebnis von TD auch in seinem Interesse liegt. Beim Marsch einer Million Herzen am 1. Oktober 2023 in Warschau rief er Menschen, die ihn nicht unterstützen wollen, zur Stimmabgabe für den Dritten Weg auf.
An der Basis kooperieren Kandidaten beider Parteien schon seit langem. "Wir sehen im Dritten Weg keine Konkurrenz, sondern einen Partner, mit dem wir gemeinsam regieren werden", sagt Katarzyna Piekarska. Die PO-Abgeordnete, die erneut ins Parlament einziehen will, tauschte mit Radwan-Röhrenschef im Straßenwahlkampf auf dem Wilson-Platz sogar Wahlbroschüren aus.
Die Linke will mit Tusk regieren
Genauso wichtig wird das Ergebnis der polnischen Linken sein, die diesmal als die Neue Linke auftritt. Sie arbeitet seit langem eng mit PO zusammen. Beim Marsch einer Million Herzen versicherte einer ihrer Anführer, Wlodzimierz Czarzasty, dass seine Partei bereit sei für eine Koalition mit der PO nach der Wahl. Die Neue Linke bedient mit einer radikalen Kritik der katholischen Kirche und den Plänen einer weitgehenden Liberalisierung des Abtreibungsrechts die Wähler, für die Tusk zu konservativ und daher nicht wählbar ist.
Auch Kaczynski wird in seinen Bemühungen um Machterhalt auf einen Koalitionspartner angewiesen sein. Für seine Partei kommt aber nur Konfederacja Wolnosc i Niepodleglosc (Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit) in Frage. Die nationalistisch-libertäre Partei ist bereits im Parlament vertreten, existierte aber bisher nur am Rande des politischen Lebens. Zu radikal war den polnischen Wählern ihr 80-jähriger früherer Chef Janusz Korwin-Mikke, der mal Sex mit Minderjährigen verteidigte, mal vorschlug, auf die männlichen Flüchtlinge an der polnischen Grenze zu schießen.
Wird Konfederacja die Königsmacherin?
Erst nachdem im vergangenen Jahr der 36-jährige Volkswirt und Geschäftsmann Slawomir Mentzen die Führung der Partei übernommen hat, begann die Zustimmung zu wachsen. Mentzen bagatellisiert seine früheren Äußerungen, etwa dass er "keine Juden, keine Homosexuellen, keine Abtreibung, keine Steuern und keine Europäische Union" wolle, als "Jugendsünde". Konfederacja will die sozialen Leistungen drastisch einschränken und die Rentenversicherung abschaffen. Sie fährt auch einen nationalistischen antiukrainischen Kurs.
Im Wahlkampf teilte Konfederacja gleichermaßen gegen Tusk und Kaczynski aus. Die Experten zweifeln allerdings, dass die Partei nach der Wahl ein eventuelles Angebot der PiS, in die Regierung einzutreten, ablehnen würde. Kaczynski gilt übrigens als Meister der Spaltung und Zersetzung kleinerer Koalitionspartner. Das hat er bereits in seiner ersten Regierungszeit in den Jahren 2005-2007 bewiesen.
Die Frage, welche Partei diesmal zum Zünglein an der Waage wird, bleibt wahrscheinlich bis zur endgültigen Auszählung der Wahlzettel offen.