Peru: "Angeschlagen als Mediziner und Menschen"
20. Mai 2020"In der jetzigen Situation müssen wir umfassend bewerten, welcher Patient in kritischem Zustand potenziell heilbar ist und welcher eher nicht", bekennt Dr. Jesus Valverde, Präsident der peruanischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SOPEMI) im Gespräch mit der DW.
Er spricht über die herzzerreißende Lage in einigen Krankenhäusern Perus, insbesondere in der Hauptstadt Lima, angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Coronavirus-Pandemie im südamerikanischen Land. Valverde betont, dass grundsätzlich jeder Patient versorgt werden muss und bei Bedarf auch Sauerstoff bekommt. Aber: "Das Problem sind die Betten auf den Intensivstationen mit ihren entsprechenden Beatmungsgeräten."
Angesicht des Mangels an Intensivbetten müssen die medizinischen Chancen aller Patienten beurteilt werden. "Es gibt zu diesem Thema keine landesweit verbindliche Richtlinie. Es ist die Sache jedes einzelnen Arztes, wie er diese Bewertung vornimmt", sagt Valverde. Dazu orientiere sich der behandelnde Arzt an einem Leitfaden, der als APACHE-Score II bekannt ist. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, das die Überlebenswahrscheinlichkeit von Patienten einer Intensivstation vorhersagt.
"Das ist das einzige Instrument, das wir haben, um über die Einweisung auf die Intensivstation zu entscheiden. Diejenigen mit der besten Prognose stehen ganz oben auf der Liste", erklärt er. "Wenn es früher keinen Platz auf der Intensivstation gab, wurde der Patient in ein anderes Hospital gebracht. Doch jetzt hat keiner mehr Kapazitäten und wir müssen an Ort und Stelle Entscheidungen treffen."
Strukturelle Probleme des Gesundheitssystems
Die uruguayische Soziologin Karina Batthyány hebt hervor, unter welchem moralischen und psychologischen Druck die Ärzte in Peru stehen. "Wenn, wie im Falle Perus, eine solch extreme Lage entstanden ist und man entscheiden muss, wem die knappen Ressourcen zugeteilt werden und wem nicht, dann stellt sich auch die Frage nach den elementaren Prinzipien, auf denen eine Gesellschaft beruht: dem Grad der Solidarität und der wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen voreinander", sagt die Exekutivdirektorin des Lateinamerikanischen Rates für Sozialwissenschaften (CLASCO). Bei der folgenschweren Bewertung müssten die Ärzte über das Recht auf Leben der Patienten entscheiden.
Für die Soziologin Batthyány offenbart die Lage in den Krankenhäusern auch die grundsätzlichen strukturellen Probleme. "Wenn man ein geschwächtes öffentliches Gesundheitssystem hat, das den Bedürfnissen der Bevölkerung nicht gerecht wird, dann wird dies in Notsituationen offensichtlich", sagt sie. Das öffentliche Gesundheitswesen in Peru sei in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt worden. "Die vergangenen Regierungen haben kein Interesse gezeigt, es zu stärken. Dies rächt sich jetzt."
Peru ist mit über 92.000 Infizierten nach Brasilien das Land mit der höchsten Zahl an COVID-19-Fällen in Lateinamerika. Über 2700 Menschen sind der Krankheit bisher zum Opfer gefallen. Das Land sei durch die Pandemie komplett überfordert, so der Mediziner Valverde. "Die Zahl der Intensivbetten pro 100.000 Einwohnern beträgt 2,3. Das liegt weit unter dem Weltstandard. Ideal wären zehn. Dieser Mangel ist nicht akut, sondern besteht schon seit langem."
Lehren aus der Krise
Valverde ist vor kurzem aus dem Expertenkomitee ausgetreten, das das peruanische Gesundheitsministerium im Rahmen der Pandemie berät. Unter anderem deswegen, weil die Regierung die Empfehlungen der Ärzte nicht ausreichend berücksichtigen würde, so der Experte. Auch er kann nicht genau beziffern, wie viele Patienten aufgrund fehlender Betten nicht auf eine Intensivstation kommen, aber er bekräftigt, dass die Warteliste sehr lang sei. "Die Wahrheit ist, dass wir als Ärzte und als Menschen sehr angeschlagen sind. Wir stehen an der Grenze unserer Möglichkeiten", sagt er. "Wir sind gestresst und wir sind müde. Trotzdem müssen wir noch vorne schauen und hoffen."
Batthyány betont die Notwendigkeit, das Sozialsystem in Peru zu stärken, um den Menschen ein Minimum an Schutz und Wohlstand zu garantieren. "Die große Herausforderung in Lateinamerika besteht darin, ein Konzept des Gemeinwohls wiederherzustellen", sagt sie. Ein allzu optimistischer Wunsch? Batthyány verneint. "Ich glaube, dass diese Krise schon ihre Lehren hinterlassen hat - aber leider zum Preis vieler Opfer."