Die Schweiz ohne Pestizide?
12. Mai 2021Weinbauer Jean-Denis Perrochet füllt den Spritztank seines Traktors mit einer weißen Flüssigkeit. Chemie? Nein, verdünnte Milch - der Bio-Winzer sprüht sie auf seine Rebstöcke, um sie von Pilzbefall zu befreien. Chemische Pestizide kommen für ihn nicht in Frage. Und weil laut Perrochet auch Kupfersulfat, ein biologisches Pestizid, dem Boden auf Dauer nicht gut tut, sucht er nach Alternativen - die Milch ist eine davon.
Seit 2012 arbeiten Perrochet und seine Familie auf ihrem Weingut nahe der Stadt Neuenburg im Nordwesten der Schweiz rein biodynamisch. Das heißt, sie verzichten auf chemische Pestizide, Unkrautvernichter und Kunstdünger. Stattdessen reichern sie die Erde mit selbst hergestelltem Kompost an und entfernen Unkraut maschinell. "Die Vorteile der Methode sind, dass wir gesünder schaffen. Wir verstreuen kein Gift", sagt Perrochet. "Früher, mit den synthetischen Spritzmittel, hatte man das Gefühl, dass es nicht gut ist für Mensch und Umwelt."
"Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide"
Perrochet gibt zu, dass die biodynamische Arbeitsweise seinen Beruf komplizierter macht. Doch er ist überzeugt, dass jeder Landwirt auf Pestizide verzichten kann. Deswegen rief Perrochet zusammen mit Mitstreitern die Initiative "Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide" ins Leben. Das Ziel: ein Verbot all solcher Pestizide, die Stoffe enthalten, die es in der Natur nicht gibt. "Für gesündere Böden, gesünderes Essen und gesündere Menschen", lautet einer der Slogans.
Ein Verbot würde nicht nur Landwirte treffen, sondern auch Hobbygärtner sowie die Schweizerische Bundesbahnen, die das Unkraut an Zugschienen mit Herbiziden entfernen. Am 13. Juni stimmten die Schweizerinnen und Schweizer in einer Volksabstimmung über die Initiative ab - und entschieden sich dagegen.
Doch Pestizide sind schon länger ein Thema in der Schweiz. 2019 machte eine Studie des Schweizer Wasserforschungsinstitut EAWAG über Pestizidrückstände im Grundwasser Schlagzeilen. Vor allem das Pilzbekämpfungsmittel Chlorothalonil überschritt die gesetzlichen Grenzwerte um ein Vielfaches. Für die Bevölkerung bestehe aber kein gesundheitliches Risiko, da die gemessenen Konzentrationen trotz Überschreitung der Grenzwerte immer noch niedrig seien, sagte das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit BLV Schweizer Medien damals. Trotzdem wurde Chlorothalonil Anfang 2020 in der Schweiz verboten, nachdem die EU den Wirkstoff neu bewertet und als potentiell gesundheitsgefährdend eingestuft hatte.
Die Chlorothalonil-Studie hat viele Menschen in der Schweiz verunsichert. Neben der Pestizid-Initiative gibt es auch eine Trinkwasser-Initiative. Statt eines kompletten Pestizidverbots wird darin gefordert, dass nur noch diejenigen Bauern staatliche Subventionen erhalten sollen, die auf Pflanzenschutzmittel verzichten.
"2x Nein zu den extremen Agrar-Initiativen"
Den Initiativen stand eine Allianz aus Bauernverbänden und Lobbygruppen gegenüber, die sich unter dem Motto "2x Nein zu den extremen Agrar-Initiativen" zusammengeschlossen hatten. Die Agrarchemieriesen Syngenta und Bayer warben auf einer dafür angelegten Internt-Plattform und mit Social-Media-Kampagnen für die Vorteile von Pestiziden. Auch die Schweizer Regierung hatte sich positioniert und riet der Bevölkerung, gegen die Initiativen zu stimmen.
Die Pestizid-Initiative hätte gravierende Folgen, sagt Sandra Helfenstein, Sprecherin des Schweizer Bauernverbands. Die einheimische Produktion würde sinken, die Importe im Gegenzug steigen, die Preise für Lebensmittel würden sich massiv erhöhen. "Die Mittel werden eingesetzt, weil es Krankheiten und Schädlinge gibt. Die sind ja nicht auf einmal weg, nur weil wir die Mittel nicht mehr verwenden wollen", sagt Helfenstein.
Bei der Debatte haben vor allem Landwirte das Gefühl, als Buhmänner dazustehen. Bauern-Bashing ist ein Begriff, der häufig fällt. Dabei würde sich die Landwirtschaft dauernd verbessern, sagt Helfenstein.
Tatsächlich ist der Einsatz von synthetischen Pestiziden in der Schweiz in den vergangenen zehn Jahren um 40 Prozent gesunken.
Gute Pestizide? Schlechte Pestizide?
Gänzlich auf synthetische Pestizide zu verzichten, würde nicht funktionieren, glaubt Gemüsebauer Thomas Wyssa. "Wir haben jetzt schon Probleme, Schweizer Rosenkohl zu produzieren", sagt er. Der Rosenkohl wird im Mai gepflanzt und im November geerntet. Während der langen Kulturzeit machen Insekten, Krankheiten und das Wetter den Pflanzen zu schaffen. Wyssa wünscht sich mehr Verständnis von der Bevölkerung dafür, wann und warum Pestizide nötig sind. "Wir wollen niemanden vergiften, wir essen unser Gemüse auch selbst", sagt er.
Pestizide schützen Pflanzen vor Schädlingen und Krankheiten und erhöhen so die Erträge. Durch diese intensive Landwirtschaft können mehr Menschen als je zuvor ernährt werden. Doch all das geschieht auf Kosten der Umwelt. Denn Pestizide wirken negativ auf Insekten - entweder weil sie diese direkt schädigen oder sie wirken indirekt, weil sie ungewünschte Beikräuter abtöten, die aber für Insekten Nahrung oder Rückzugsort sind. Durch den Insektenschwund gibt es auch weniger Vögel, die sich von Insekten ernähren. Außerdem bleiben Pestizide bleiben nicht auf den Feldern. Studien zeigen: Besonders am Rand agrarwirtschaftlich genutzter Flächen gibt es einen extremen Rückgang der Artenvielfalt. Wind und Regen verteilen Pestizide auch in Gewässer und entferntere Biotope - die negativen Folgen dort sind dieselben.
Einige Pestizide stehen außerdem im Verdacht, langfristig Gesundheitsschäden bei Menschen auszulösen. Studien zeigen, dass Landwirte häufiger unter Krankheiten wie Parkinson und einigen Krebsarten wie dem Non-Hodgkin-Lymphom leiden als der Durchschnitt der Bevölkerung. In Frankreich ist Parkinson mittlerweile als Berufskrankheit für Landwirte anerkannt.
Flächenverbrauch - das Manko der Öko-Landwirtschaft
Doch könnte die Schweiz komplett auf synthetische Pestizide verzichten- und könnte eine reine Bio-Landwirtschaft die Ernährungssicherheit garantieren? Agroscope, das Forschungszentrum des Schweizer Bundesamts für Landwirtschaft, hat untersucht, welche synthetischen Pestizide "mit besonderem Risikopotential" ersetzt werden könnten. Einige der Pflanzenschutzmittel könnten sich problemlos streichen lassen - doch nicht alle, so das Fazit der Studie. Bei Wein und Obst gäbe es kaum Schwierigkeiten. Doch vor allem der Anbau von Zuckerrüben, Mais und Raps wäre erschwert bis unmöglich.
Im Schnitt fällt die Ernte im Bio-Anbau um 15 Prozent geringer aus als im konventionellen Anbau, ergab eine Meta-Analyse in der Fachzeitschrift Nature. Für eine reine Bio-Landwirtschaft bräuchte es also mehr Platz, um die Ertragseinbußen auszugleichen.
Dabei müsse man berücksichtigen, dass sich nicht alle Standorte für den Bio-Anbau eignen, sagt Arndt Feuerbacher. Er forscht zum Thema nachhaltige Landwirtschaft an der Universität Hohenheim. "In manchen Gegenden gibt es Probleme mit Bodenerosionen, da erlaubt die konventionelle Landwirtschaft mehr Möglichkeiten", sagt Feuerbacher der DW. In der ökologischen Landwirtschaft werde der Boden zur Unkrautbeseitigung meist gepflügt, in der konventionellen Betrieben würden Beikräuter mit Herbiziden entfernt, das sei für Landwirte weniger arbeitsintensiv und dadurch gewinnbringender.
"100 Prozent Bio ist aus ökonomischer Sicht sehr schwierig zu rechtfertigen und auch aus ökologischer Sicht nicht unbedingt sinnvoll." Denn wenn auf Grund geringerer heimischer Erträge mehr Tierfutter aus Brasilien importiert werden müsse, würden die Probleme einfach in andere Regionen der Welt verschoben, so Feuerbacher.
Trotz des höheren Flächenverbrauchs könnte eine Umstellung auf wesentlich mehr ökologische Landwirtschaft gelingen, wenn die Menschen weniger tierische Produkte essen und weniger Lebensmittel verschwenden würden, sagen Wissenschaftler. Derzeit werden rund 71 Prozent der weltweiten Ackerflächen für Viehfutter verwendet und nur 18 Prozent für den Anbau von Nahrungsmitteln. Gleichzeitig wird etwa ein Drittel aller produzierten Lebensmittel nach Angaben der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) nie gegessen.
Schleichender Wandel in Richtung Bio-Anbau?
Auf den Weg in eine pestizidfreie Zukunft will sich eine kleine Gemeinde in Norden Italiens machen und sorgte mit diesem Vorhaben 2014 für internationale Schlagzeilen. Das Dorf Mals legte in einem Bürgerentscheid fest, seinem gesamten Gebiet jegliche Pestizide zu verbieten. Nur noch biologisch abbaubare Pestizide sollten erlaubt sein. Doch mehrere Grundbesitzer und Obstbauern klagten dagegen. Ein Gericht kippte das Verbot schließlich. Noch ist aber nichts entschieden. Die Gemeindeverwaltung will in die nächste Instanz gehen.
Doch obwohl Pestizide derzeit noch gar nicht verboten sind, beobachtet Koen Hertoge, einer der Initiatoren des Bürgerentscheids, bereits einen landesweiten Wandel. "Den Leuten ist bewusst geworden, dass Pestizide eine Einwegstraße sind. Immer mehr Bauern in der Region steigen auf Bio um und verwenden weniger Pestizide. "Jeder sechste Bauernhof in der Schweiz ist laut dem Dachverband Bio Suisse bereits ein zertifizierter Bio-Bauernhof. Und es werden immer mehr.
Auch wenn es nach dem Willen der Schweizer also kein offizielles Pestizid-Verbot in der Schweiz geben wird: Vielleicht bewegt die öffentliche Diskussion mehr Landwirte zum Umdenken, wie in Mals. Dann hätten der Bio-Weinbauer Perrochet und seine Mittstreiter trotzdem etwas erreicht. Denn in einem ist sich die Forschung einig: Je mehr Öko-Landwirtschaft, desto besser für die Artenvielfalt.
Dieser Artikel wurde nach der Volksabstimmung aktualisiert.