"Das Verlangen nach Live-Musik ist riesig"
4. September 2020Am 5. September lädt das Jazzfest Bonn zu einem Kopfhörer-Konzert ein - dem ersten in seiner Geschichte. Vor der spektakulären Kulisse der Wasserburg Lede bei Bonn tritt das A-Cappella-Quartett "Of Cabbages And Kings" auf. Die vier jungen Sängerinnen, die sich hinter dem märchenhaften Namen "Von Kohlköpfen und Königen" verbergen, haben schon mehrfach beim Jazzfest für Begeisterung gesorgt. Nun ist ihr Auftritt das erste Lebenszeichen des Festivals, das im Mai 2020 eigentlich ein Jazzfest der Superlative werden sollte - aber dann wegen der Corona-Pandemie komplett ausfallen musste. Peter Materna, selbst Saxophonist, ist Gründer und musikalischer Leiter des Jazzfestes Bonn, das bisher mit seinem hochkarätigen Programm Jahr für Jahr auch international brillierte.
DW: Herr Materna, mit dem Open-Air-Konzert am kommenden Samstag kehrt das Jazzfest Bonn sozusagen ins Leben zurück...
Peter Materna: So kann man es formulieren, denn im Mai konnten wir keine einzige unserer Veranstaltungen ausrichten. Wir sind richtig reingerutscht in den Ausnahmezustand. Aber jetzt haben wir uns gedacht: Wir müssen sichtbar werden.
Wie kann man sich so ein Kopfhörer-Konzert vorstellen?
Es ist ein besonderes Konzert in einer besonderen Situation. Vor allem haben wir diese spektakuläre Location, eine wunderschöne kleine Burganlage. Die Künstlerinnen singen von der Burg aus, während die Menschen auf der gegenüberliegenden Seite, auf ihren Picknick-Decken sitzend, die Musik über Kopfhörer in einer hervorragenden Qualität hören, wie man sie bei einem Live-Konzert im geschlossenen Raum nur selten erlebt. Auch die Atmosphäre und die Beleuchtung der Burg spielen eine große Rolle.
Zurzeit sucht die ganze Musikszene nach alternativen Konzertformen. Sehen Sie den Ausweg für Ihr Festival in solchen Open-Air-Veranstaltungen?
Massenveranstaltungen waren nie unser Ziel; es ging beim Jazzfest nie darum, zehntausend Leute in einer Sportarena zu versammeln. Da erlebt man das nicht, was unter die Haut geht, aber das versuchen wir immer wieder zu erreichen. Unter den gegebenen Umständen ist ein Open-Air-Konzert durchaus eine gute Alternative. Das Problem in unseren Breitengraden ist aber, dass selbst im Sommer ein plötzlicher Wolkenbruch kommen kann.
Das wird am kommenden Samstag hoffentlich nicht passieren. Dennoch: Ein klassisches Jazz-Konzert, wie man es sich vorstellt, bei dem man dicht an dicht sitzt, wird noch lange nicht möglich sein?
Schulter an Schulter kann man jetzt nicht mehr zusammensitzen, es sei denn, man gehört zu einer Familie oder einer Wohngemeinschaft. Aber ich muss anmerken: Diese Atmosphäre war nicht immer von Vorteil. Ein bisschen Abstand ist ja nicht schlimm.
Das Jazzfest Bonn hatte vor, im Mai 2020 die "Crème de la Crème" der deutschen und internationalen Szene zu präsentieren. Wie geht es den Musikern?
Für all die Profis, die von ihrer Musik leben, ist die ganze Situation eine Katastrophe, man kann es nicht anders bezeichnen. Gerade deswegen ist es so wichtig, kleinere Aktionen wie unser Konzert am Samstag zu veranstalten, um möglichst früh wieder einen Spielbetrieb zu ermöglichen. So haben wir eine Chance, das Schlimmste zu verhindern - eine Pleitewelle und Insolvenzen im Privatbereich der Musiker. Die Lage ist dramatisch, und es wird leider zu wenig darüber gesprochen. Dabei haben wir so eine fantastische Jazzszene in Deutschland! Wir müssen tunlichst gucken, dass wir über diese Zeit kommen und differenziert Modelle entwickeln, um hoffentlich bis Ende nächsten Jahres wieder zum halbwegs vernünftigen Normalzustand zurückzukehren.
Open-Air-Konzerte jeglicher Art sind ein Modell, was wären die anderen?
Man muss einerseits die Kosten reduzieren. Andererseits muss man bedenken, dass man dadurch, dass viele internationale Künstler nicht mehr reisen können oder auch wollen, eine Art paradiesischen Zustand für die hervorragenden lokalen Künstler hat. Man kann mit den Musikern aus der Region und ganz Deutschland tolle Programme machen. Vielleicht muss man sich erst mal ein halbes Jahr auf kammermusikalische Programme beschränken, wie Quartette oder Quintette.
Die Konzerte können nicht vor 1000 Menschen stattfinden, sondern vor 200 oder 300. Und das in den gleichgroßen Sälen, wobei deren Betreiber bei den Mieten den Veranstaltern entgegenkommen. Was die, muss man sagen, auch tun. Seitens des Publikums erleben wir eine ganz große Solidarität: Als das Jazzfest im Mai, das ja komplett ausverkauft war, abgesagt werden musste, gab es kaum jemanden, der den Ticketpreis zurückgefordert hätte. Nun versuchen wir, die meisten Konzerte nächstes Jahr im Frühling und Sommer nachzuholen. Das Verlangen nach einem Live-Konzert, wo man physisch hingeht und live spielende Musiker erlebt, ist schon riesig.
Viele Jazzmusiker bekommen Einladungen zu ungewöhnlichsten Veranstaltungen. Auch das ist ein Zeichen von Solidarität. So haben Sie neulich bei einer "Rosentaufe" gespielt – der Vorstellung einer neuen Rosenzüchtung, die zu Ehren von Beethovens 250. Jubiläum in Bonn präsentiert und angepflanzt wurde. Die neue Rose heißt im Anklang an Beethovens berühmtes Werk "Für Elise", Sie haben über das Motiv improvisiert…
…und das war für mich nicht nur schön, sondern auch symbolisch: Denn eine Rose hat nicht nur wahnsinnig wohlduftende Blüten, sondern auch Dornen. Das gilt auch für unsere Wohlstandsgesellschaft, mit deren Schattenseite wir derzeit zu tun haben.
Das Gespräch führte Anastassia Boutsko.