"Fehlschlag": Russlands Krieg in der Ukraine
6. Mai 2022Der Versuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin "Russland wieder zu alter Größe zu führen" sei "nach hinten losgegangen" sagt der ehemalige CIA-Direktor David Petraeus in einem ausführlichen Interview mit der Deutschen Welle. Nach Einschätzung des pensionierten US-Armeegenerals ist die russische Armee seit Beginn des Krieges am 24. Februar auf "praktisch allen denkbaren Gebieten hinter den Erwartungen zurückgeblieben".
"Es fängt damit an, dass sie über keinen brauchbaren Einsatzplan verfügten. Die Angriffe erfolgten an fünf oder sechs verschiedenen Orten. Die Logistik erwies sich als absolut miserabel. Das Ausbildungsniveau der Soldaten und der Nachwuchsführungskräfte ist eindeutig unzureichend", führt Petraeus weiter aus.
Nachdem der Versuch gescheitert war, eine der großen Städte der Ukraine einzunehmen, sah sich Moskau gezwungen, sich aus dem Gebiet um Kiew zurückzuziehen und die Kräfte auf die Separatistengebiete im Osten des Landes zu konzentrieren. Obwohl sich die strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol im Süden des Landes größtenteils unter russischer Kontrolle befindet, leistet im Stahlwerk Asowstal noch immer eine Gruppe ukrainischer Kämpfer Widerstand.
Die NATO könnte sich vergrößern
In Antwort auf den Einmarsch verhängten die USA, die EU-Staaten sowie andere Länder Sanktionen gegen Moskau und erhöhten ihre Verteidigungsausgaben. Schweden und Finnland denken darüber nach, der NATO beizutreten. Damit würde das Verteidigungsbündnis auf 32 Mitglieder anwachsen. In beiden Ländern wird die Entscheidung voraussichtlich diesen Monat fallen.
Dies sei "eine weitere Folge von Putins Versuch, Russland wieder zu alter Größe zu führen […] Der ist nach hinten losgegangen und führt dazu, dass die NATO zu alter Größe zurückfindet", meint Petraeus mit Blick auf den erheblichen Druck, unter dem die NATO während der Präsidentschaft von Donald Trump stand.
Moskau warnt vor "schwerwiegenden Konsequenzen" und der Stationierung von Atomwaffen in der russischen Exklave Kaliningrad, sollten sich Schweden und Finnland für einen Beitritt entscheiden. "Man muss sich Sorgen machen, wie [Russland] reagiert", sagt Petraeus. "Aber zum einen sind die [schwedischen und finnischen] Streitkräfte sehr kompetent … Sie waren unter meinem Kommando in Afghanistan. Sie waren sehr kompetent, sehr professionell, sehr gut ausgestattet… Und sie haben gut mit den internationalen Streitkräften zusammengearbeitet."
"Bemerkenswerte" Entscheidungen in Deutschland
Zu Beginn des Krieges kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz Investitionen in Höhe von 100 Milliarden Euro in die unterfinanzierte Bundeswehr an und versprach, die Verteidigungsausgaben auf mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts anzuheben. "Lassen Sie mich betonen, wie bemerkenswert die Entscheidungen sind, die von einem relativ neuen Kanzler und einer neuen Regierung getroffen wurden", unterstreicht Petraeus und nennt die Einmalzahlung an die Bundeswehr eine "sehr weise Zusicherung".
Die Entscheidung der deutschen Regierung "zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte tödliche Militärgüter und Waffensysteme an ein anderes Land zu liefern" bezeichnet er als "sehr, sehr bedeutsam".
Petraeus führte in Afghanistan das Kommando über die größte NATO-Mission, an der Deutschland jemals teilgenommen hat. In hochrangiger militärischer oder nachrichtendienstlicher Funktion diente er verschiedenen US-Regierungen, die mit mäßigem Erfolg versuchten, Deutschland dazu zu bewegen, seine Verteidigungsausgaben zu erhöhen und im 21. Jahrhundert eine aktivere militärische Rolle einzunehmen.
In der letzten Woche genehmigte Deutschland, das für seine Zurückhaltung bei der Unterstützung Kiews mit Waffen kritisiert wird, die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Zusätzlich zu den bereits zugesagten Gepard-Flugabwehrpanzern und anderer Ausrüstung werden nun laut Verteidigungsministerium auch sieben Panzerhaubitzen geliefert.
Welche Pläne hat Moskau für den 9. Mai?
Petraeus ging auch auf Spekulationen ein, dass Moskau am 9. Mai seinen Sieg erklären oder den Krieg ausweiten könnte. An diesem wichtigen russischen Feiertag wird der Triumph der Sowjetunion über Nazi-Deutschland gefeiert.
"Berichten zufolge denken die Russen zumindest darüber nach, eine allgemeine Mobilisierung anzukündigen. Damit würde sich diese sogenannte "militärische Spezialoperation" in dem Versuch, die Unterstützung der russischen Bevölkerung zu gewinnen, in einen Dritten Weltkrieg oder etwas in dieser Art verwandeln", erläutert Petraeus. Dass Putin plane, an diesem Tag Atom- oder Chemiewaffen einzusetzen, hält er für unwahrscheinlich. "Ein Überschreiten dieser Grenzen wäre zu bedeutsam."
Petraeus äußert Zweifel an der Theorie, dass Russland am 9. Mai einen Angriff auf den ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyi plane. "Es gibt glaubwürdige Berichte von Saboteuren, Spionen, Spezialkräften, die in Kiew waren und dem Anschein nach versucht haben, Präsident Selenskyi ins Visier zu nehmen. […] Bei Wladimir Putin kann man nie etwas ausschließen. […] Doch auch das halte ich für nicht sehr wahrscheinlich."
Die UN haben in diesem Krieg eigenen Angaben zufolge bislang 6600 zivile Opfer gezählt, darunter 3200 Tote, und warnt, dass die wahren Zahlen vermutlich erheblich höher sind. Der Westen wirft Russland Kriegsverbrechen vor, doch Moskau streitet dies ab.
Auf die Frage, ob der Westen trotz des Vorwurfs von Gräueltaten Waffenstillstandsverhandlungen mit Putin unterstützen solle, antwortet Petraeus, dass diese Entscheidung von der ukrainischen Führung getroffen werden müsse. "Wir sollten uns an Präsident Selenskyi halten. Wenn er und sein Volk bereit sind, zu verhandeln, dann ist es für uns an der Zeit, mit ihm daran zu arbeiten. Schließlich ist es sein Land, das unter der zerstörerischen Kraft Russlands leidet."
Petraeus erinnert auch daran, dass "vor allem Wladimir Putin verhandeln möchte". Nicht notwendigerweise wegen der russischen Verluste auf dem Schlachtfeld, sondern in der Hoffnung auf Erleichterung von den "Sanktionen gegen seine Wirtschaft, sein Finanzsystem und seinen inneren Kreis, und den Belastungen, die das für die Unternehmen bedeutet".
Das Interview führte Ines Pohl, DW-Studioleiterin in Washington.
Aus dem Englischen adaptiert von Phoenix Hanzo.