Philippinen im Schatten des IS-Terrors
19. Dezember 2018Abdul blickt direkt in die Kamera, als er über seinen zerbrochenen Traum spricht. Er hat 40 Freunde verloren. Eltern und Verwandte leben heute in Notunterkünften. "Unser ursprünglicher Plan war, einfach nur das Militärcamp in Marawi anzugreifen und die Soldaten aus der Stadt zu vertreiben", erzählt er der DW. Danach, so hätten es die Anführer versprochen, könne die philippinische Regierung die Gründung eines islamischen Staates im Süden der Philippinen nicht länger verhindern.
Der schlanke junge Mann hat sein Gesicht zum Schutz mit einem arabischen Kopftuch verhüllt. Nur seine Augen sind zu sehen. Ansonsten trägt er Jeans, Turnschuhe und einen grauen Hoodie wie ein ganz normaler Junge aus der Nachbarschaft. Treffpunkt für unser Gespräch ist eine zerschossene ehemalige Schule am Rand der militärischen Sperrzone. Im Eingangsbereich hat jemand mit gelber Farbe "I love ISIS" auf die Wand gesprüht, so wird die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) hier meist genannt. Der Spruch ist mit einem Stück Stoff abgedeckt. Auf dem Boden liegen Müll, Decken und Patronenhülsen. Vom obersten Stockwerk hat man einen Panorama-Blick auf die Trümmerlandschaft.
Das historische Zentrum Marawis bleibt auch mehr als ein Jahr nach dem Ende der Kämpfe abgeriegelt. Die geflüchteten Einwohner nennen die Sperrzone "Ground Zero", weil hier alles zerstört ist. Systematische Luftangriffe, schwerer Artilleriebeschuss und der erbarmungslose Häuserkampf haben das Herz Marawis in eine Geisterstadt verwandelt - wie Mossul, Aleppo oder Raqqa.
Abdul war 17 Jahre alt, als er sich von lokalen Extremisten für den "muslimischen Befreiungskampf" anwerben ließ. Seinen Eltern schenkte er die Prämie, die er dafür bekam: 7000 Pesos, umgerechnet etwa 120 Euro. Das ist viel Geld in dieser verarmten Region. Sie waren stolz auf ihn und stellten nicht viele Fragen. Dass muslimische Familien ihre Söhne in den Kampf schicken, hat im Süden der Philippinen eine lange Tradition.
Historisches Unrecht
Auf Mindanao, der zweitgrößten Insel des Landes, tobt einer der längsten Konflikte Asiens. Der bewaffnete Aufstand gegen den philippinischen Staat begann Ende der 1960er Jahre, angeführt von rivalisierenden Rebellengruppen: maoistischen, nationalistischen, islamistischen. Ihre Ziele reichen von Unabhängigkeit bis zur kompletten Veränderung des politischen Systems. Nur etwas mehr als fünf Prozent der philippinischen Bevölkerung sind muslimisch, die große Mehrheit ist römisch-katholisch. Über 90 Prozent aller Muslime - insgesamt etwa sechs Millionen Menschen - leben auf Mindanao und den kleineren Nachbarinseln Basilan, Sulu und Tawi Tawi. Doch selbst hier sind sie heute in der Minderheit.
Bei vielen Muslimen überwiegt das Gefühl, Opfer eines historischen Unrechts zu sein - zuerst verübt von den spanischen Kolonialherren, die im 16. Jahrhundert das Christentum mitbrachten und die lokale Bevölkerung unterwarfen - fortgesetzt im 20. Jahrhundert von den US-amerikanischen und japanischen "Invasoren" - sanktioniert bis heute von den "Imperialisten in der Hauptstadt Manila" oben im Norden des Inselreichs. Abdul hält philippinische Politiker durch die Bank für korrupt und unehrlich. Er glaubt auch, dass die Regierung gezielt Christen auf Mindanao ansiedelt, um Muslime wie ihn zu unterdrücken.
Der Traum von einem islamischen Staat wurde sein Allheilmittel: gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Wut. Während seine Familie die größte muslimische Rebellengruppe Moro Islamic Liberation Front (MILF) unterstützt, entschied sich Abdul im Frühjahr 2015 heimlich für die extremistischen Maute-Brüder, die dem selbsternannten "Islamischen Staat" die Treue geschworen hatten. Die Anführer Abdullah und Omar Maute hatten viele Jahre im Nahen Osten verbracht und sich dort radikalisiert. Abdul verschwand für mehrere Monate in einem Dschungelcamp. Er lernte, wie man mit Gewehren und Messern umgeht und genoss die "Bruderschaft".
Zwischen Kriminalität und Dschihadismus
Über WhatsApp und andere Social-Media-Kanäle erhielten Abdul und seine Freunde IS-Propaganda-Videos und Predigten aus Syrien und dem Irak, übersetzt in ihre Sprache, so dass die jungen Rekruten im Südosten Asiens es verstehen konnten. In seinem Dschungelcamp seien auch etwa 30 ausländische Kämpfer gewesen, berichtet Abdul: vor allem aus den Nachbarländern Indonesien und Malaysia, aber auch aus dem arabischen Raum. Überprüfen können wir seine Angaben nicht.
Am Ende des Dschungeltrainings bekam er eine Kalaschnikow und umgerechnet 160 Euro. Die erhielt er von nun an jeden Monat, um sich für den Tag X bereitzuhalten. Ja, er habe mit der neuen Waffe getötet, gibt Abdul zu. Beim Kampf zweier verfeindeter Großfamilien in Marawi habe er abgedrückt, sagt er ohne Reue: "Selbst wenn du persönlich keine Feinde hast, sind die Feinde deines Clans deine Feinde. Das ist hier so." Der Übergang zwischen Kriminalität und Dschihadismus ist fließend. Die Gewalt auf Mindanao hat ein Vakuum geschaffen, in dem sich Clan-Herrschaft, kriminelle Netzwerke und Korruption ungehindert ausbreiten können.
Eigentlich sollte die geplante Attacke auf den Militärposten im Zentrum Marawis nach dem Ende des Fastenmonats Ramadan im Sommer 2017 beginnen, erzählt Abdul. Doch nachdem ein Versteck der verbündeten Terrorgruppe Abu Sayaf in Marawi aufgeflogen war, warfen die Maute-Brüder offenbar alle Pläne über Bord und besetzten das Zentrum.
Etwa 1000 überwiegend lokale Kämpfer verschanzten sich nach Regierungsangaben am 23. Mai 2017 in der Stadt. Sie nahmen dutzende Menschen als Geiseln und enthaupteten Christen. Die genaue Zahl der christlichen Opfer ist unbekannt. Darauf angesprochen, weicht Abdul aus: "Wir sollten nur gegen Christen vorgehen, die zur Regierung gehören." Er verweist auf den Koran-Unterricht im Camp: "Sie haben uns gelehrt, dass der Islam es erlaubt, sich für Unrecht zu rächen."
Nach der Schlacht
Abdul war auf Familienbesuch in der Nachbarstadt Iligan, als die Schlacht um Marawi vorzeitig ausbrach. Er wurde zum Späher und informierte seine verschanzten Freunde per Smartphone über Truppen-Bewegungen der philippinischen Armee. Am Ende brauchte es massive Luftangriffe, 12.000 hochgerüstete Soldaten und die Unterstützung der verbündeten US-Armee, um die größte muslimische Stadt der Philippinen nach fünf Monaten wieder unter Kontrolle zu bringen. Einigen Kämpfern gelang die Flucht in den Dschungel. Abdul kehrte unbehelligt zu seiner Familie zurück.
Etwa 1200 Menschen sollen nach offiziellen Angaben ihr Leben verloren haben, vor allem Extremisten wie die Maute-Brüder. Doch diese Angaben sind in der Bevölkerung umstritten, weil noch immer viele Familien Angehörige vermissen. Wegen der enormen Zerstörung leben bis heute 65.000 Menschen in Notunterkünften. Es gilt weiter das Kriegsrecht.
War es das wert, Abdul? Die Antworten des jungen Mannes sind der Versuch, sich von jeder Schuld reinzuwaschen. "Die haben uns einer Gehirnwäsche unterzogen. Die haben uns immer wieder versprochen, dass sich das Leben in Marawi verbessern wird, sobald wir einen islamischen Staat haben", erzählt er fast schon trotzig: "Die haben uns versprochen, dass wir in der Stadt nicht angegriffen werden." Abdul ist wütend: Auf die Regierung, "weil sie bombardiert hat". Auf die toten Maute-Brüder, "weil sie ihre Versprechen gebrochen haben". Der 21-Jährige ist ohne seinen Kämpfer-Sold wieder arbeitslos.
Im Schatten des Terrors
Die Regierung von Rodrigo Duterte, der als erster philippinischer Präsident selbst aus Mindanao stammt, hat den Muslimen nach der Schlacht um Marawi mehr Autonomie versprochen. Die Minderheit soll sich in Zukunft mit Hilfe eines eigenen Grundgesetzes namens Bangsamoro Organic Law (BOL) weitgehend selbstbestimmt regieren. Wichtigster Verhandlungspartner in den Friedensverhandlungen ist die größte Rebellengruppe MILF, der Abduls Eltern vertrauen. Sobald das neue Grundgesetz in Kraft ist, will die MILF rund 30.000 Kämpfer entwaffnen.
Doch sollte die Autonomie scheitern, "werden hier viele Menschen ernsthaft an unserer Glaubwürdigkeit zweifeln", warnt Sammy Al-Mansoor, der Oberbefehlshaber der MILF-Kämpfer, im Gespräch mit der DW in seinem schlichten Dschungel-Hauptquartier. "Dann könnte der IS wieder versuchen, die Lage auszunutzen und unsere Kämpfer abzuwerben. Das wäre sehr gefährlich." Auch Abdul hatte sich im Frühjahr 2015 im Namen des IS abwerben lassen. Jetzt, unter dem Eindruck der Niederlage, ist das Versprechen auf Selbstbestimmung für den jungen Kämpfer zum neuen Allheilmittel geworden. Aber für wie lange?
Wütende junge Männer wie Abdul, die schnell zu begeistern und leicht zu enttäuschen sind, bleiben anfällig für Propaganda. Das passt zu den Plänen internationaler Terrororganisationen, im Südosten Asiens Fuß zu fassen, während sie im Nahen Osten Territorium verlieren. "Ich würde wieder kämpfen", versichert Abdul: "Aber nicht mehr in unseren muslimischen Gebieten. Dann würden wieder nur unsere eigenen Leute leiden. Aber wenn der Kampf woanders stattfindet, würde ich mich anschließen."