Pierre Boulez wird 90
26. März 2015"Wenn er heutzutage für Apple arbeiten würde, wäre er ein Visionär", sagt Andrew Gerzso über den Dirigenten und Komponisten Pierre Boulez. So, wie Steve Jobs, der eine regelrechte "Glaubensgemeinschaft" auf seine Produktlinie einschwor. "Boulez war schon immer ein Visionär der Neuen Musik", sagt Gerzso. Seit 1977 arbeitet er für das IRCAM (Institute de Recherche et de Coordination Acoustique-Musique), das Pariser Forschungsinstitut für elektronische Musik. Pierre Boulez hatte das Institut Anfang der 1970er Jahre gegründet.
Boulez' musikalische Vision hat viele Facetten. So organisierte er als Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker die zwanglosen "rug concerts". Bei diesen "Teppichkonzerten" wurden die Stühle durch rote Teppiche ersetzt. Das Publikum sollte sich entspannen, um die moderne Musik auf sich wirken zu lassen. Boulez führte atonale Musik von Anton Webern auf und brachte Schulkindern die teils als schauerlich empfundenen Klänge von Igor Strawinsky näher.
"Wenn du jung bist, willst du die Welt verändern. Aber ich denke, ständiger Protest gegen das Establishment ist nicht befruchtend, und diese Sterilität mag ich nicht", sagte Boulez der Deutschen Welle 2003 in einem Interview. "Ich bin in die etablierten Institutionen gegangen, um dort innovativ zu sein. Ich habe versucht, eine direkte Kommunikation zwischen Musik und dem Publikum unserer Zeit in Gang zu setzten. Die Menschen, die mehr über die Musik herausfinden wollten, sollten dazu eine Gelegenheit bekommen."
Boulez wollte Innovation, musste jedoch erkennen, dass sich die musikalische Welt in gewisser Hinsicht freiwillig an Traditionen gebunden fühlt. "Ich habe einmal gesagt, die eleganteste Lösung, um das Problem der Oper zu lösen, wäre es, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Und ich denke immer noch so", lautet ein berühmtes Boulez-Zitat aus dem Jahr 1990. "Vor allen anderen musikalischen Gattungen herrscht bei der Oper nur Stillstand."
Avantgarde trifft Pragmatismus
Dennoch hat Pierre Boulez nie den Blick für die historischen Grundlagen verloren, die unweigerlich in jedem Musikstück ruhen. Er wurde sogar in der wohl traditionellsten musikalischen Institution Deutschlands gefeiert, bei den Bayreuther Festspielen. Dort dirigierte er unter anderem fünf Jahre lang von 1976 an Richard Wagners "Ring des Nibelungen".
Boulez strebte in seinen Kompositionen nach unentdeckten Klängen. Kritisiert wurde er für seine intellektuelle Herangehensweise. Gerzso, der bei vier großen Musikwerken mit ihm zusammengearbeitet hat, meint, dass diese Wahrnehmung nicht ganz zutreffe: "Er hat den Ruf, eher ein Theoretiker zu sein, aber wenn man ihn kennenlernt und mit ihm arbeitet, dann merkt man, dass er die Fähigkeit hat, seinen Pragmatismus mit einem wohl durchdachten Projekt zu verbinden". Die Kombination von Herz und Verstand charakterisiert Boulez' Musik. "Die Musik hat verschiedene Ebenen der Wahrnehmung", sagte er der DW 2003. "Gerade Werke, die man nicht sofort entschlüsseln kann, bleiben lange Zeit im Gedächtnis haften".
Dirigent für Tradition und Moderne
Pierre Boulez wurde am 26. März 1925 in Montbrison in Frankreich geboren. Er studierte zunächst Mathematik bevor er ein Musikstudium am Pariser Konservatorium aufnahm. Dort erhielt er Kompositionsunterricht bei zeitgenössischen Größen wie Olivier Messiaen. Er beendete sein Studium 1945. Der zweite Weltkrieg in Europa war gerade zu Ende gegangen. Man wollte sich von der Vergangenheit lösen und suchte dringend nach Erneuerung.
Boulez' Karriere als Dirigent brachte ihm über zwei Dutzend Grammys ein. Sie begann 1958 als Gastdirigent des damaligen SWF-Sinfonieorchesters Baden Baden. In seiner Wahlheimat Baden Baden lebt er übrigens auch heute noch. 1966 debütierte er bei den Bayreuther Festspielen mit Wagners "Parsifal". Zwischen 1969 und 1977 trat der Komponist Boulez hinter den Dirigenten zurück. Er war Chefdirigent des Cleveland Orchestra (1969-1972), des BBC Symphony Orchestra (1971-1975) und der New York Philharmonic (1971-1977), wo er in die Fußstapfen von Leonard Bernstein trat. Später wurde er dann Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra.
In den späten 60ern und Anfang der 70er kamen Boulez diese ausländischen Posten ganz recht. Er hatte Differenzen mit der französischen Regierung, die sich seiner Meinung nach zu sehr in die Kunst einmischte. Das freiwillige Exil dauerte an bis der damalige Präsident Georges Pompidou ihn bat, ein neues öffentlich gefördertes Musikforschungsinstitut, das als IRCAM bekannt wurde, zu leiten.
Der neue Computer-Musiker
"Die Vision, die Boulez (für das IRCAM) hatte, ist aus einer konkreten Notwendigkeit geboren", sagt Gerzso gegenüber der DW. Er ist Leiter für pädagogische und kulturelle Öffentlichkeitsarbeit bei IRCAM. Die elektronische Klangerzeugung spielte damals eine immer größere Rolle in zeitgenössischen Kompositionen. "Man brauchte einen Ort, an dem Ingenieure und Musiker zusammen arbeiten konnten, um neue Musiktechnologien zu entwickeln." Boulez leitete das Institut von 1977 bis 1992. In den ersten Jahren wurden junge Komponisten für eine ganz neue Aufgabe ausgebildet. "Ein neuer Beruf entstand. Heute nennen wir ihn den 'Computer-Musiker', der als Bindeglied zwischen Wissenschaftlern und Musikern fungiert", erklärt Gerzso, der selbst einer der ersten Computer-Musiker war.
Während der Zeit beim Forschungsinstitut IRCAM gründete Boulez auch das Ensemble Intercontemporain, ein Kammerorchester für zeitgenössische Werke, das auch die Zuhörer in Sachen Neuer Musik weiterbilden sollte. Als Dirigent und insbesondere mit dem Ensemble Intercontemporain setzte sich Boulez für moderne Komponisten wie Alban Berg, Anton Webern und Arnold Schönberg ein und hob dadurch besonders die Zwölftonmusik hervor.
"Musiker, die die Notwendigkeit der Dodekaphonie nicht erfahren haben - damit meine ich nicht verstanden, sondern wirklich erfahren haben - sind nutzlos, denn ihr gesamtes Werk ist für den Kunstbedarf unserer Zeit völlig irrelevant." Es gibt viele Boulez-Zitate über Dodekaphonie oder Zwölftonmusik. Anstatt Tonarten wie Dur und Moll zu verwenden, hat diese Kompositionsmethode einen systematischen Ansatz. Alle zwölf Töne der chromatischen Tonleiter müssen erst einmal nach bestimmten Regeln gespielt werden, bevor sie wiederholt und variiert werden dürfen.
"Er war immer umtriebig"
In seinen Kompositionen entwickelte Boulez die Zwölftonmusik weiter. Mitstreiter waren Zeitgenossen wie Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono. In der "integralen seriellen Musik" gibt es nicht nur strenge Regeln für die einzelnen Tonhöhen, sondern auch für Parameter wie Klangfarbe und Dynamik.
Das Beispiel dafür ist "Le marteau sans maitre" von 1955, ein Stück für Altstimme und ein exotisches Sextett bestehend aus Altflöte, Gitarre, Viola, Xylorimba, Vibrafon und Schlagzeug. Inspiriert von den surrealistischen Gedichten von René Char, gilt das Stück in neun Sätzen als eins der größten Werke von Pierre Boulez.
Die drei Klaviersonaten "Le visage nuptial", "Rituel" (für Klavier 1945, bearbeitet für Orchester 1978 und 1999) und "Notation" zählen ebenso zu seinen bemerkenswerten Kompositionen.
Weil Boulez sich mit seiner Karriere als Dirigent, Lehrer und Musikautor beschäftigte, ist die Liste seiner Kompositionen nicht sehr lang. Er sah sie immer als "Works in Progress" und verbrachte viel Zeit damit, sie zu überarbeiten."Wir haben an 'Répons' von 1980 bis 2005 gearbeitet und kehrten immer wieder zu dem Stück zurück, denn er hatte immer wieder einen neuen Dreh für die Musik gefunden", erzählt Andrew Gerzso über das Stück für großes Kammerorchester, sechs Solisten und elektronische Klangerzeugung, das seine offizielle Premiere 1984 hatte. "Er war immer umtriebig."
Die europäischen Opernhäuser - einige davon zugegebenermaßen recht altbacken - wurden zwar noch nicht in die Luft gesprengt. Dennoch hat Pierre Boulez seine Fußstapfen in der Musikgeschichte hinterlassen. Er war ein Pionier der Neuen Musik und hat den Beruf des Computer-Musikers geschaffen. Wichtiger noch: Er hat alles Erdenkliche getan, um moderne Musik, und sei sie noch so avantgardistisch, dem Publikum zugänglich zu machen.
Breandáin O'Shea interviewte Pierre Boulez 2003