Homöopathie
12. April 2010Es klingt nach Experiment: Homöopathische Mediziner haben in Sachsen-Anhalt eine kranke Stadt behandelt. Köthen, knapp 29.000 Einwohner groß, leidet an Überalterung, Wegzug und Desindustrialierung. Das Handwerkszeug der Ärzte: "Kleinste Gabe" gegen das "Local Uebel", so hat es Samuel Hahnemann einst in Köthen aufgeschrieben. Doch seit wann können Ärzte auch Straßenzüge heilen?
Schrumpfung - und kein Ende in Sicht
"Ähnliches werde durch Ähnliches geheilt" - vor über 200 Jahren schrieb Samuel Hahnemann, der Begründer der homöopathischen Medizin, den Grundsatz seiner Heilkunde in Köthen auf. In der Residenzstadt, gelegen im Herzen Sachsen-Anhalts, war Hahnemann Leibarzt eines kunstsinnigen Fürsten. Und vor ihm hatte ein gewisser Johann Sebastian Bach als Hofmusicus in Köthen gelebt.
Das war lange, bevor Köthen zu einem wichtigen Standort der Agrarindustrie, dann des Schwermaschinenbaus wurde. Die Wende brachte Köthen wie dem gesamten Gebiet der ehemaligen DDR den Strukturwandel unter beschleunigten Bedingungen: Bis heute hat ein Fünftel der Einwohner Köthen verlassen. Abwanderung, Arbeitslosigkeit und Überalterung gehören zu den Dauerproblemen der Stadt. Damit liegt Köthen im Trend: Demoskopen prognostizieren dem Land Sachsen-Anhalt, dass von den einst knapp drei Millionen Einwohnern in 50 Jahren nur noch 1,3 Millionen zwischen Altmark, Harz und Burgenlandkreis leben werden.
Experiment mit dem Unausweichlichen
Das Bauhaus Dessau und die sachsen-anhaltische Landesregierung haben kurz nach der Jahrtausendwende auf diese Tatsache reagiert. Sie riefen die Internationale Bauausstellung Stadtumbau 2010 (IBA) ins Leben und ermutigten 19 Kommunen, mit dem Unausweichlichen zu experimentieren. Köthen nahm die Aufforderung zum Experiment ernst, besann sich auf sein Erbe als Wiege der Homöopathie und bat homöopathische Ärzte zum Rollentausch mit Stadtplanern: "So wie Hahnemann die Selbstheilungskräfte des Patienten angeregt hat", sagt Köthens Baudezernentin Ina Rauer, "wollten wir die Selbstheilung der Stadt in Gang setzen."
Das Testfeld der Ärzte: die Ludwigstraße, 400 Meter schmucklose Gründerzeit, kaum ein Baum, viel Leerstand. Ein Wohnungsunternehmen plante, 17 Häuser abzureißen.
Um die Anwohner gegen den von oben diktierten Stadtumbau zu mobilisieren, setzten die Ärzte auf Provokation. An einem Dezemberabend 2006 schalteten sie die Straßenbeleuchtung in der Ludwigstraße aus - ein Symbol gegen die drohende Preisgabe der Straße. Die Anwohner tobten und kamen noch am selben Abend zu einer Einwohnerversammlung zusammen. Die Ärzte erklärten den Anwohnern: "Wenn ihr Eure Straße retten wollt, müsst ihr selbst ran." Das Kalkül ging auf: Die Anwohner fragten, ob sie freiwerdende Grundstücke selbst nutzen könnten, für eine Erdwärmeanlage zum Beispiel oder einen barrierefreien Eingang. Die Straße, sagt Baudezernentin Rauer heute, sei "aktiviert zur Heilung."
Wallfahrer aus Indien kommen nach Köthen
Hinter der Verknüpfung von Homöopathie und Stadtentwicklung steht das offene Eingeständnis der Stadtverwaltung, kein Patentrezept gegen die Schrumpfung zu besitzen. Rauer: "Wir sagen den Einwohnern: Wir wissen keinen Rat. Wir sind auf Euch angewiesen." Und während die Stadtoberen in anderen Städten der Region immer noch auf Wachstum und den rettenden Großinvestor hoffen, hält es Köthens Baudezernentin mit den Prognosen, dass ein Ende der Schrumpfung noch nicht in Sicht ist.
Einen handfesten Erfolg können Rauer und die Homöopathen bereits für sich verbuchen. In der Ludwigstraße haben Anwohner und Auswärtige eine Handvoll Häuser gekauft und damit vor dem Abriss gerettet. Und seitdem die Stadt auch touristisch mit dem homöopathischen Erbe für sich wirbt, besuchen Hahnemann-Wallfahrer vor allem aus Indien regelmäßig die Stadt, berichtet Rauer: "Die kommen zum Hahnemann-Haus und knien auf den Treppenstufen ihres Gurus nieder."
Autor: Robert Schimke
Redaktion: Conny Paul