Plädoyer für den "Judenältesten"
27. November 2013Es gibt eine Geschichte aus Theresienstadt, die deutlich macht, warum Benjamin Murmelstein von vielen Holocaust-Überlebenden verachtet, ja zum Teil gehasst wurde. Und warum er für denjenigen, der ihn Jahrzehnte später nach der Motivation seines Handelns fragt, bewundert wird. Sie spielt im Jahr 1942. Im Ghetto ist der Typhus ausgebrochen. Eine Katastrophe - auch aus Sicht des Holocaust-Organisators Adolf Eichmann. Nicht etwa, weil die Krankheit jüdische Gefangene töten könnte. Das käme dem glühenden Antisemiten gelegen. Sondern weil sie auch auf Nicht-Juden übergreifen könnte. "Wenn Sie die Epidemie nicht in den Griff bekommen", so soll Eichmann zu Murmelstein gesagt haben, "dann brenne ich ganz Theresienstadt nieder".
Benjamin Murmelstein ist zu diesem Zeitpunkt Mitglied des Judenrats, der für die Organisation des Lebens im Ghetto zuständig ist. Ihm unterliegt das Krankenlager. Er hat bereits zuvor versucht, die Insassen impfen zu lassen, doch es gibt Widerstände. Die Menschen glauben, man wolle sie vergiften. Also greift Murmelstein zu einer drastischen Maßnahme: Nur wer geimpft ist, bekommt zu essen. Ohne einen Impfstempel auf den im Lager notwendigen Essensmarken werden keine Lebensmittel mehr ausgegeben.
Die Typhus-Epidemie endet. Eichmann lässt Theresienstadt vorerst überleben. Doch fortan existiert das Gerücht, Murmelstein wolle seine eigenen jüdischen Brüder aushungern lassen. Er sei ein Kollaborateur der Nazis.
Weder Täter, noch Opfer
Benjamin Murmelstein selbst erzählt diese Geschichte in dem Dokumentarfilm "Der letzte der Ungerechten". Sein Gegenüber ist Claude Lanzmann - heute berühmt für sein neuneinhalbstündiges Monumentalwerk "Shoah". 1974 hatte er damit begonnen, Interviews mit Überlebenden und Tätern der nationalsozialistischen Vernichtungslager aufzuzeichnen. Der erste, mit dem er sprach, war Benjamin Murmelstein, der zu diesem Zeitpunkt in Rom lebte. Eine Woche lang sprach er jeden Tag etliche Stunden mit ihm. Und doch tauchte Murmelstein in "Shoah" nie auf. "Er hätte den Rahmen gesprengt", meint Lanzmann. Denn Murmelstein ist weder eindeutig Täter noch Opfer.
Jetzt hat Lanzmann aus dem Material, das er damals gedreht hat, einen neuen Film gemacht, angereichert mit Szenen die er heute, beinahe 40 Jahre später an den Originalschauplätzen in Tschechien gedreht hat. "Vielleicht ein bisschen spät", sagt Lanzmann bei der Vorstellung seines Films in Berlin, "aber ich habe ihn gemacht." Dreieinhalb Stunden lang ist das neue Werk geworden.
Die Geschichte von Benjamin Murmelstein ist eine Ausnahme. Und das in vielerlei Hinsicht. Zunächst einmal: Theresienstadt nahm unter den Ghettos und Konzentrationslagern der Nazis eine Sonderrolle ein. Seit 1941 wurde auf einem Festungsgelände in der Nähe von Prag der Welt auf perfide Art ein "Musterlager" nach den Plänen Adolf Eichmanns vorgespielt. Es sollte zeigen, dass die Juden von den Nazis in schöne Städtchen wie dieses "umgesiedelt" würden - und so den reibungslosen Verlauf der tatsächlich stattfindenden Mordmaschinerie garantieren. Im Sommer 1944 besuchte gar das Rote Kreuz Theresienstadt - ohne zu begreifen, dass hinter den hübschen Häuserfassaden Menschen gequält und ermordet wurden.
Nur ein "Ältester" überlebte: Murmelstein
Offiziell stand Theresienstadt - wie auch andere Ghettos - unter "jüdischer Selbstverwaltung" eines so genannten "Ältestenrats" jüdischer Insassen, der das Leben im Ghetto und später auch die Deportation in Vernichtungslager auf Befehl und unter der Aufsicht der SS organisieren musste. Vor Benjamin Murmelstein hatte es zwei "Judenälteste" in Theresienstadt gegeben: Jakob Edelstein wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt und dort hingerichtet, Paul Eppstein 1944 durch Genickschuss in Theresienstadt ermordet. Auf ihn folgte Benjamin Murmelstein. Er überlebte. Als einziger "Judenältester" eines nationalsozialistischen Ghettos überhaupt.
Im Film berichtet Murmelstein davon, wie er sich nach dem Krieg freiwillig von einem Gericht in Prag verhören lässt. "Warum leben Sie?", fragt man ihn dort. Es impliziert den Vorwurf: Welche Verbrechen haben Sie begangen, um ihr Leben zu retten? Murmelstein lacht darüber. Und überhaupt zeigt er sich im Gespräch mit Lanzmann als brillanter Geist und großer Intellektueller, der für seine Position treffende Vergleiche findet. Er sei als "Judenältester" eine "Spottfigur" gewesen, sagt er, und habe "als Marionette die Fäden ziehen müssen".
Späte Gerechtigkeit
Bevor Murmelstein nach Theresienstadt kam, war er Rabbiner in Wien. Adolf Eichmann machte ihn 1938 zum Leiter der "Auswanderungsabteilung der Jüdischen Gemeinde". In dieser Funktion musste er die Auswanderung der Wiener Juden forcieren. Auch er selbst hätte emigrieren können. Mehrfach boten ihm USA wie auch England ein Visum an. Doch er lehnte ab. "Ich habe immer geglaubt, ich habe noch etwas zu erledigen", sagt Murmelstein im Film.
Das Gericht in Prag spricht ihn 1946 frei. Doch das Urteil jüdischer Intellektueller ist lange Zeit ein Anderes. Hannah Arendt und Gershom Sholem erklären, er verdiene den Tod durch den Strang. "Er wurde zu Unrecht angegriffen", meint Lanzmann. Der Regisseur, einst Mitglied der französischen Résistance gegen die Nazis, zeigt sich auch mit 87 Jahren noch als Kämpfer. Während seine langjährigen Weggefährten Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre den Begriff der "littérature engagée" prägten, einer Literatur, die sich für eine Sache stark macht, so könnte man sagen, macht Lanzmann "engagierte Filme". "Der letzte der Ungerechten" hat ein ganz klares Ziel: Benjamin Murmelstein zu rehabilitieren. In der letzten Szene des Films sieht man die beiden Gesprächspartner von hinten. Sie schlendern der untergehenden Sonne Roms entgegen. Claude Lanzmann legt seinen Arm um Murmelstein.