Corona-Lockerungen in Moskau
9. Juni 2020Endlich! Das Aufatmen der Einwohner der Zwölf-Millionen-Metropole Moskau war nicht zu überhören, als ihr Bürgermeister Sergej Sobjanin das Ende der bisherigen Corona-Einschränkungen verkündete. Manches wie Haare schneiden ist ab sofort wieder möglich, anderes wie die Öffnung von Fitnessstudios ist in ein paar Tagen wieder erlaubt. Bekleidungsgeschäfte und Baumärkte haben ohnehin seit einer Woche wieder offen. Museen und Zoos werden kommende Woche wieder zugänglich sein, dann können auch Cafés und Restaurants Gäste bedienen. Als die wohl wichtigste Entscheidung des Bürgermeisters aber sehen die meisten Beobachter die sofortige Abschaffung elektronischer Genehmigungen, mit denen man sich in der Stadt bewegen konnte. Soweit so gut. Freiheit!
Erstaunt waren allerdings viele, wie schnell der Kursschwenk erfolgt ist. Noch Ende Mai vermutete Sobjanin, dass sorgenfreie Stadtspaziergänge erst dann erlaubt werden könnten, wenn Moskau nur Dutzende oder höchstens Hunderte Neuinfektionen täglich melden würde. Das ist aber bei 1.500 bis 2.500 täglichen Neuinfektionen in der russischen Hauptstadt bisher lange nicht der Fall.
Angriff auf die Bürgerrechte
Der unabhängige Moskauer Abgeordnete Denis Schenderowitsch begrüßt die Abschaffung der, wie er nennt, "illegalen” Maßnahmen, die seiner Meinung nach weniger der Bekämpfung der Corona-Pandemie dienten, sondern vielmehr der Einschränkung von Bürgererrechten. Damit meint er vor allem die strikten Regeln zum Verlassen der Wohnung und das damit verbundene System der elektronischen Passierscheine: "Das waren absolut dumme und nutzlose Schritte, die nichts Anderes als Unzufriedenheit beim Volk hervorriefen.” Jetzt könne sich das Volk also wieder freuen, resümiert Schenderowitsch gegenüber der DW.
Tatsächlich klagten viele Moskauer in den vergangenen zweieinhalb Monaten über die ihrer Meinung nach absurden Strafen, die sie von der Stadt für angebliche Verstöße gegen die Selbstisolation bekamen. Da gab es eine bettlägerige Patientin mit einer schweren Erkrankung, die zur Zahlung von 4.000 Rubeln (umgerechnet ca. 53 EUR) verurteilt wurde, obwohl sie seit Jahren ihre Wohnung nicht verlassen kann. Die Passierscheine der anderen Moskauer wurden plötzlich für ungültig erklärt, obwohl sich nichts an ihrem Status änderte. Vielen ist noch die kurzzeitige Festsetzung eines Hundeliebhabers in Erinnerung geblieben, der beim Gassi gehen seinem Vierbeiner folgte und die Absperrung in einem Park miasachtete. Die Geschichte wurde für viele zum Symbol der Absurdität mancher Regeln.
Tragen von Schutzmasken Pflicht
Denis Schenderowitsch kritisiert aber auf der anderen Seite die Lockerung anderer Maßnahmen, die die Pandemie seiner Meinung nach tatsächlich eindämmen konnten: "Was die Genehmigung von Massenveranstaltungen angeht, so finde ich sie vorzeitig, weil die Zahl der Neuinfektionen nicht rückläufig ist.” Schenderowitsch nennt die neue Entscheidung deswegen "seltsam” und "hysterisch”. Er verweist darauf, dass die Moskauer erst vor wenigen Tagen zum Tragen von Schutzmasken und Handschuhen in öffentlichen Räumen und zu geordneten Spaziergängen "wie im Knast” nach einem von der Stadt festgelegten Plan für jedes einzelne Haus verpflichtet wurden.
Als einen offensichtlichen Grund für eine solche Entscheidung nennt Schenderowitsch die Siegesparade, die am 24. Juni am Roten Platz stattfinden soll, nachdem sie ab historischen 9. Mai (der offizielle Tag des Sieges in Russland) wegen der Pandemie abgesagt wurde. Bürgermeister Sobjanin hätte wohl den Anruf aus dem Kreml bekommen, ironisiert Schenderowitsch: "Serjoscha, hör auf! Erstens brauchen wir die Parade und zweitens, und das ist wohl das Allerwichtigste, brauchen wir die Abstimmung zu Verfassungsänderungen.”
Kritik an Beschränkungen
Am 1. Juli sollen die Russen zu den weitreichenden Änderungen in der Verfassung befragt werden. Diese Reform soll unter anderem Präsident Wladimir Putin eine Wiederwahl nach dem Ablauf seiner regulären Amtszeit 2024 garantieren. Der Moskauer Abgeordnete Schenderowitsch prangert "das Chaos und die Gleichgültigkeit” der Behörden gegenüber den Bürgern an.
Ihm widerspricht Pawel Danilin, Mitglied der Moskauer Gesellschaftskammer und Direktor des regierungsnahen Zentrums für politische Analyse und soziale Forschungen, im Gespräch mit der DW. Er führt die offizielle Statistik an, der zufolge die Zahl der erfolgreich behandelten COVID-19-Patienten wachse. Auch er kritisiert Behörden-Beschränkungen wie etwa Spaziergänge nach Plan als "nutzlose Maßnahmen", die "in der Hauptstadt nur für Spannungen sorgten”. Eine politische Motivation schließt Danilin jedenfalls aus: "Ich würde diese Entscheidung weder mit der Parade noch mit der Abstimmung zu der Verfassung in Verbindung setzen.” Der Bürgermeister habe vor der Verkündung seiner Entscheidung ausreichend Mediziner konsultiert.