Polen: "Das Gericht muss vor Gericht"
20. Juni 2017Vor dem Obersten Gerichtshof am Krasinski-Platz in Warschau steht ein bizarres Protestcamp. "Das Gericht muss vor Gericht", heißt es dort auf einem Transparent. Ein anderes verkündet, "Verbrecher", aus kommunistischer Zeit übernommene Richter, müssten beseitigt werden. Eine Kloschüssel, Sofas und klapprige Büromöbel stellen dar, wie - in den Augen der Protestierenden - die polnische Justiz funktioniert. Die rechtsgerichteten Demonstranten fordern die ebenfalls rechtsgerichtete Regierung auf, gegen die angeblich zu große Macht der Justiz vorzugehen, gegen die "Gerichtokratie", wie sie es nennen.
Die Gerichte müssen vor Gericht: Das ist ganz im Sinne der nationalkonservativen Regierung. Am Dienstag hat sie dabei einen wichtigen Erfolg erzielt. Das Verfassungsgericht hat gesprochen: über den Landesjustizrat (KRS), ein bisher unabhängiges Verfassungsorgan, das bei der Besetzung von Richterstellen eine entscheidende Rolle spielt. Von den 25 Mitgliedern des KRS wurden bisher 15 durch die Standesorganisationen der Richterschaft gestellt. Das soll sich jetzt ändern: Sie sollen, so der Wunsch der Regierungspartei PiS, künftig vom Parlament gewählt werden. Die Amtszeit der jetzigen KRS-Mitglieder soll verkürzt werden.
Das Verfassungsgericht urteilte, die bisherige Regelung für die Besetzung des KRS sei verfassungswidrig. Damit wird der Weg frei für einen Gesetzentwurf, über den bald das Parlament entscheiden soll. Das Ende der Entwicklung dürfte sein, dass die von Jaroslaw Kaczynski geführte PiS großen Einfluss auf die Gerichte bekommt und missliebige Richter ins Abseits schieben kann.
Justiz wird auf Parteilinie gebracht
Gut ein Jahr lang hatte das Verfassungsgericht gegen diese Entwicklung Widerstand geleistet. Diese Zeit ging mit der Neuwahl der fachlich umstrittenen, aber regierungsfreundlichen Julia Przylebska zur Präsidentin zu Ende. Jetzt rückt stattdessen der Oberste Gerichtshof (SN) ins Visier der Regierung, also jene Institution, vor der sich das Protestcamp aufgebaut hat.
Auch hier spielt das Parlament, in dem die PiS eine knappe absolute Mehrheit hat, eine Schlüsselrolle: Eine Gruppe von PiS-Abgeordneten beantragte beim Verfassungsgericht, zu prüfen, ob die Wahlordnung zur Bestimmung des SN-Chefs verfassungsgemäß sei. Sollte das Verfassungsgericht auch hier im Sinne der Regierung urteilen, wäre die 2014 berufene SN-Chefin, die Jura-Professorin Malgorzata Gersdorf, "regelwidrig" ins Amt gekommen. Das könnte den Weg zu ihrer Abberufung freimachen.
So wird die Justiz, unter Mitwirkung des Verfassungsgerichts, von oben nach unten auf Parteilinie gebracht. Die PiS-Regierung sieht darin einen Erfolg: Die Justiz werde jetzt "dem Volk" zurückgegeben, das nun mal diese Parlamentsmehrheit gewünscht habe. So äußerte sich Stanislaw Piotrowicz, früher Staatsanwalt im kommunistischen Polen, heute für die anti-kommunistische PiS Vorsitzender des Justizausschusses im Parlament. Dazu sagte die liberale Abgeordnete Kamila Gasiuk-Pihowicz, die sogenannte Einheit von Volk und Justiz erinnere sehr an kommunistische Zeiten.
"Riesige Gefahr für die polnische Demokratie"
Jaroslaw Kaczynski hat seine Ausbildung als Jurist im kommunistischen Polen erhalten, damals stand das Prinzip der Gewaltenteilung an Universitäten nicht gerade hoch im Kurs. Für die Bürgerrechtsbewegung dagegen war es ein Eckpfeiler des Rechtsstaats. So kritisierte der frühere Bürgerrechtler Aleksander Hall das Vorgehen der Regierung scharf. Seit Montesquieu sei die Gewaltenteilung von größter Bedeutung für jede Demokratie: "Aber die PiS will ein ganz anderes System in Polen einführen. Dieser Systemwechsel ist eine riesige Gefahr für die polnische Demokratie und die Freiheit des Einzelnen."
Es werde auch künftig Richter geben, die unabhängig vom Druck des Regierungslagers Recht sprechen würden, schrieb Hall im Magazin "Polityka". Aber: "Sie werden mit Schikanen und öffentlichen Hetzkampagnen rechnen müssen, so wie manche Verfassungsrichter und Richter des Obersten Gerichtshofs. Vielleicht auch mit Provokationen seitens der Geheimdienste." Die Kampagne gegen die angebliche "Gerichtokratie" zerstöre den Respekt vor Recht und Gerichten, vor allem seitens der Regierungsanhänger.
Kritisch sieht auch Adam Strzembosz die Entwicklung. Der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofs befürchtet, dass der Angriff auf den Landesjustizrat "eine weitere, für den demokratischen Rechtsstaat fundamentale Institution zerstört". Noch schlimmer sei der Angriff auf den Obersten Gerichtshof. Dort seien die Richter 1989 von Grund auf erneuert worden. "Wie kann Jaroslaw Kaczynski heute so unverschämt sein zu behaupten, der Oberste Gerichtshof sei eine Bastion des Postkommunismus? Wenn das so ist, möchte ich vorschlagen, Kaczynski den Doktortitel abzuerkennen." Staatspräsident Andrzej Duda, der das Vorgehen Kaczynskis fast immer absegnet, könne, so Strzembosz, für die Zerstörung des Verfassungsgerichts eines Tages vor das Staatstribunal gestellt werden.