Polen: Zäune statt Diversity
28. April 2021Bisher ist es nicht viel mehr als ein Loch in der Erde - aber Ende des Jahres soll das Haus von Sylwia Zborowska fertig sein. Und im nächsten Frühling einzugsbereit. Die 32-Jährige hat die Nase voll von den Hochhäusern Warschaus; sie möchte jetzt in Łomianki, etwa 30 Autominuten vom Stadtzentrum entfernt, ihren sicheren Hafen finden: "Przystań" (Hafen) heißt die Anlage mit den 32 Wohneinheiten. Zborowska besucht die Baustelle häufig. Voller Stolz führt sie durch den Rohbau und beschreibt, wie ihr Haus bald aussehen soll.
"Przystań" ist eines von vielen ähnlichen Neubauprojekten in Polen. Der Markt für Doppelhaushälften mit Terrasse und Giebeldach boomt. Auf den ersten Blick sehen die baugleichen Häuser aus wie in vielen dieser Anlagen - doch wer gerade hier sein Haus kauft, kennt den Unterschied: Jeder Immobilie ist ein christlicher Schutzpatron zugeordnet, ein Seliger oder Heiliger.
"Es geht uns darum, Menschen zusammenzubringen, die sich miteinander gut fühlen, die ein gemeinsames Fundament vereint. Das ist der Glaube an Gott", sagt Kamil Kwiatkowski, der sich als "Initiator" des Projekts vorstellt, der DW. Er erzählt von "fehlerhaften" Berichten, Spott ("Gibt's einen Beichtstuhl an der Einfahrt?") und sogar Hasskommentaren.
Auf die Frage der DW, was ein Kaufinteressent denn mitbringen müsse, reagiert Kwiatkowski mit Sarkasmus: "Als allererstes benötigen wir eine Bescheinigung vom Bischof, der sich wiederum beim einem Pfarrer melden muss - und am Ende wird alles vom Papst bestätigt", scherzt er. Tatsächlich werde der Glaube auf keine Art und Weise überprüft, stellt er klar. Jeder, der wolle, könne hier einsteigen.
Kapelle, Rosenkränze, Kreuze
Zwei Drittel der Häuser seien schon verkauft, so Kwiatkowski weiter, zum Preis von ca. 5000 Złoty pro Quadratmeter (gut 1000 Euro). Das liegt weit unter dem, was in der Hauptstadt bei Neubauten verlangt wird, wo in begehrten Lagen mancherorts 4000 bis 5000 Euro bezahlt werden.
Auch eine kleine Kapelle soll in der Siedlung entstehen. In den Mauern jedes Hauses werden Rosenkränze, Kreuze oder auch persönliche Erinnerungsstücke eingebaut, die die Bewohner schützen sollen. "Die Menschen, die hierherkommen, sind dem gegenüber sehr aufgeschlossen. Sie bringen den Rosenkranz ihrer Oma mit, ein kleines Kreuz, etwas, dass für sie eine geistige Bedeutung hat", berichtet Kwiatkowski. Auch für Kinder soll gesorgt werden: geplant sind ein Spielplatz und sogar ein siedlungseigener Kindergarten.
Wohnen ohne Kinder
Ganz anders eine Siedlung, die bald in Schlesien entstehen soll: Hier sollen ausdrücklich Singles oder kinderlose Paare ihr Glück finden: in Mietshäusern fern jeden Spielplatzlärms und frei von der Angst, dass ein Ball durch die Fensterscheibe des Eigenheims fliegt.
Die Kulturwissenschaftlerin Aleksandra Kunce, selbst Oberschlesierin, die an der Schlesischen Universität in Kattowitz forscht, beobachtet diese Entwicklungen mit Sorge und Skepsis. Ihren mit Kollegen entwickelten Forschungszweig nennt sie "Oikologie" (abgeleitet vom griechischen Wort für Haus, "oikos"). Sie bezieht sich auf Gedanken des deutschen Philosophen Martin Heidegger. Dem zufolge sind wir zwar in der Lage, Häuser zu bauen - wissen diese aber nicht zu bewohnen, erklärt sie.
"Es funktioniert wie ein Bunker"
Kunce zufolge leiden "thematische" Bauvorhaben an einer grundsätzlich falschen Reihenfolge. Wenn überhaupt, dann müsse sich eine derartige Profilierung einer Wohnanlage aus sich selbst heraus entwickeln; von Anfang an nur Nachbarn zu haben, die ähnlich denken, ähnlich alt sind ist und deren Lebensweise nicht von der eigenen abweicht, führe zu einer "Karikatur" einer Behausung.
"Es funktioniert wie ein Bunker: Wir fühlen uns zwar darin sicher, halten aber gleichzeitig Ausschau nach dem Feind." Das produziert nach Kunces Meinung Ängste. Die Kulturwissenschaftlerin erinnert daran, "dass Menschen letztlich doch irgendwann in die Welt hinausmüssen: dorthin, wo all die anderen lauern". Von existentieller Sicherheit für die Bewohner thematischer Wohnsiedlungen könne also keine Rede sein - ganz im Gegenteil.
Der Drang zum Zaun
Kunce weist auf einen anderen Trend hin, der in Polen seit Jahren anhält: Ganz Warschau wurde mit "Gated Communities" genannten umzäunten Wohnsiedlungen versehen. Dort seien teilweise sogar die Parkplätze parzelliert und abgesperrt. Am bekanntesten ist die Siedlung "Marina Mokotów" in der südlichen Innenstadt: ein ganzer Stadtteil, der wie eine Festung durch Zaun und Schrankenwärter abgeriegelt ist. Und das, obwohl Warschau laut Kriminalstatistik keine besonders gefährliche Stadt ist.
Kulturell und soziologisch begründet Kunce den "Drang zum Zaun" mit der Entwicklung Polens seit dem Ende des Kommunismus und dem wachsenden Wohlstand der polnischen Gesellschaft. "Wir haben es mit einem dilettantischen Kapitalismus zu tun, der plötzlich da war. Es wird dauern, um zu den alten Regeln des bürgerlichen Lebens zurückzufinden." Die Kulturwissenschaftlerin geht davon aus, dass die Einwohner umzäunter Siedlungen sich schon bald nicht mehr sicherer fühlen werden als andere - aber dafür umso begrenzter.
Die Wünsche der Investoren
Diese Meinung teilt Katarzyna Rokicka-Müller vom Warschauer Architektenbüro mamArchitekci. Seit 20 Jahren entwirft sie Wohnsiedlungen. Das sei ein Beruf wie der des Schneiders, sagt sie im Gespräch mit der DW. Sie folge den Wünschen der Investoren - oft gegen ihre eigene Überzeugung.
"Über all die Jahre habe ich Investoren ermutigt, auf gute Beziehung mit der lokalen Gemeinschaft zu setzen und dafür zu werben, dass etwas Neues in deren Umfeld entsteht. Ich bin dafür, den Raum offen zu gestalten, damit Menschen sich begegnen. Doch letztlich habe ich noch nie eine Siedlung entworfen, die nicht eingezäunt sein sollte", so Rokicka-Müller.
Freiheit im Altbau
Rokicka-Müller selbst lebt in einem Altbau - zusammen mit Menschen aus ganz unterschiedlichen Schichten. Dass sie dabei weder von Zäunen noch von Schranken umgeben ist, gebe ihr das Gefühl von Freiheit. "Diejenigen, die in geschlossenen Siedlungen wohnen, leben in einem Käfig. Ich würde nie dorthin ziehen, denn es würde auch meine Freiheit eingrenzen", sagt sie. Die ohnehin polarisierte polnische Gesellschaft brauche nicht noch zusätzliche Beschränkungen.
Sylwia Zborowska, Bauherrin in der christlichen Siedlung in Łomianki, weist den Vorwurf zurück, sie und andere wollten sich separieren. Siedlungen ohne Kinder sieht sie kritisch: Die seien "ausgrenzend" - im Gegensatz zur Siedlung ihrer Wahl. "Mit der Entscheidung hier zu leben, wählen wir unseren sicheren Hafen, ohne aber dabei auf soziale Trennung setzen", betont Zborowska.