Politik oder Finanzmärkte - Wer bestimmt?
23. November 2011Am Anfang stand die Finanzkrise. Die Banken hatten sich verzockt, die Steuerzahler mussten mit Milliarden einspringen. Milliarden, die der Staat eigentlich nicht hatte. So wuchsen die Schuldenberge auf neue Rekordhöhen. In der Folge wurde aus der Finanzkrise eine Schuldenkrise, die jene europäischen Staaten, die ohnehin seit Jahren am Abgrund wirtschafteten, in diesen hineinzogen.
Und jetzt? Während Griechenland und Italien, Spanien, Portugal und zunehmend auch andere EU-Länder um ihre Zahlungsfähigkeit bangen, hat die Krise schon das nächste, das vielleicht finale Stadium erreicht: "Es handelt sich nicht mehr um eine Staatsschuldenkrise", sagt Gerd Häusler, Vorstandschef der bayerischen Landesbank, "es handelt sich um eine Krise der politischen Reformfähigkeit in Europa." Es gebe Pensionsverpflichtungen, die nicht finanziert seien, ganze Finanzbereiche müssten reformiert werden - Themen, über die man eigentlich erst in 20 Jahren diskutieren wollte.
Schuldenkrise - kaum einer blickt wirklich durch
Doch so richtig will das in Europa niemand wahrhaben. Es wird über Euro-Bonds, also die gemeinschaftliche Haftung für Staatsschulden, diskutiert, über größere Rettungsschirme und über die Rolle der Europäischen Zentralbank, die nach dem politischen Willen der Mehrheit der Euro-Länder unbegrenzt Geld auf die Märkte pumpen soll. Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie Hans-Peter Keitel ist überzeugt, dass viele der Akteure in der Krise "schlicht intellektuell überfordert" sind, weil sie die Krise und ihre Auswirkungen nicht mehr verstehen. Sich selbst will er da gar nicht ausnehmen. Sehr wohl aber Deutschlands Regierungschefin Angela Merkel: "Sie ist aus meiner Sicht eine der ganz wenigen, die in der Sachdiskussion in Europa auch wirklich besteht."
Soviel Lob in der Krise, das ist neu für die Kanzlerin. Bisher wurde ihr stets vorgeworfen, sie sei zu zögerlich, Deutschland nehme seine Führungsrolle in Europa nicht wahr und Maßnahmen wie der Rettungsschirm kämen stets zu spät und griffen zu kurz.
Doch neuerdings vertritt Merkel in der Krise eine veränderte Position: Wenn die Politik glaube, dass noch mehr Schulden die Krise lösen könnten, dann irre sie sich. "Ein politisches Gebilde wie die Europäische Union, das einer sich rasant verändernden Welt erklärt, dass es die letzte Kraftanstrengung mit dem Lissabon-Vertrag unternommen hat und anschließend sich zu Lebzeiten nie wieder mit einer Veränderung seiner rechtlichen Grundlagen beschäftigt, ist meiner Meinung nach auf den Märkten von Haus aus verloren", sagt Merkel nun.
Rahmen und Spielregeln - Politik kann gestalten
Eine Erkenntnis, für die die deutsche Bundeskanzlerin lange gebraucht hat, was aber durchaus zu rechtfertigen sei, so Anke Hassel im Gespräch mit DW-WORLD.DE: "Man sagt, die Politik muss schneller handeln und sie muss mehr tun", so die Professorin für politische Ökonomie an der Hertie School of Governance in Berlin, "aber das würde bedeuten, dass sich die Politik dem Tempo der Finanzmärkte anpassen müsste." Im demokratischen Prozess brauche man aber Zeit, um bestimmte Entscheidungen treffen zu können - auch wenn dies mit sich brächte, dass die Probleme sich verschärften.
Doch was wird aus dem Primat der Politik, wenn sie den Entwicklungen auf den Finanzmärkten nur hinterhecheln kann? Hassel sieht das gelassen, denn Politik hat in ihren Augen einen größeren Spielraum als gemeinhin angenommen: Die Politik setze den Rahmen und gebe den Finanzmarktakteuren die Spielregeln vor. Allerdings, so Hassel, müssten sich dafür möglichst viele auf gemeinsame Regeln einigen. Im Idealfall kämen die G20 auf einen gemeinsamen Nenner - oder zumindest die Europäische Union. Deutschland allein, da ist sich Hassel sicher, könne da nur wenig ausrichten.
Ohne Konsens kein Ende der Krise
Doch wie schwierig es ist, einheitliche Spielregeln vorzugeben, zeigt allein der Streit um die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Von einem Konsens ist man in Europa und erst recht im Rahmen der G20 weit entfernt. Überhaupt hat die Politik bislang nur wenige gemacht, um die Finanzmärkte zu regulieren. Gleichzeitig ist es den Europäern nicht gelungen, die Akteure auf den Märkten davon zu überzeugen, dass sie ihre Schulden in den Griff bekommen werden.
Stattdessen breitet sich der Brandherd immer weiter aus. Wenn er nicht gelöscht wird, werden die Politiker keine Möglichkeit mehr haben, ihre Reformen durchzuführen, sagt Beatrice Weder di Mauro, denn ein "Liquiditätsproblem" könne sehr schnell zu einem "Solvenzproblem" werden.
Wertvolle Zeit gewinnen - mit einem Schuldentilgungsfonds
Die Wirtschaftswissenschaftlerin ist Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung. Der schlägt in seinem aktuellen Jahresgutachten einen Schuldentilgungsfonds vor, in den alle Euro-Länder ihren Schuldenanteil zusammenführen könnten, der über der Marke von sechzig Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegt. Für diese Schulden würden die Euro-Länder dann gemeinschaftlich haften. Rund zwanzig Jahre würde der Fonds laufen, bis er sich auflösen würde, so Weder di Mauro.
"Es ist machbar, wenn auch nicht einfach", ist sie überzeugt. Mit solch einem Fonds hätten die Länder erstmals die Möglichkeit, Schulden abzubauen und die Neuverschuldungsgrenze von drei Prozent einzuhalten, "weil man die Zeit dafür bekommt und nicht jede Minute von den steigenden Zinsen getrieben wird."
Die Ökonomen sind sich einig: Wenn es nicht gelingt, das Vertrauen der Investoren wieder herzustellen, dann bleibt keine Zeit mehr, um die Konsolidierungspläne und -vorhaben der Regierungen durchzuführen. Die Politiker werden sich also nur Luft verschaffen und die Gestaltungshoheit zurückerlangen, wenn sie zweigleisig fahren: auf der einen Seite Vertragsänderungen in der Euro-Zone, die auf bindende Verpflichtungen zur Haushaltskonsolidierung hinauslaufen, und auf der anderen Seite eine wie auch immer geartete Vergemeinschaftung der Schulden. Zumindest für eine absehbare Zeit.
Autorin: Sabine Kinkartz
Redaktion: Jutta Wasserrab