Politischer Scherbenhaufen in Bagdad
2. Mai 2016Im Parlament in Bagdad ist Aufräumen angesagt. Beim Sturm aufgebrachter Demonstranten auf das Abgeordnetenhaus sind am Wochenende Möbel und Scheiben zu Bruch gegangen. Doch der politische Scherbenhaufen ist weitaus schwieriger zu beseitigen. Premier Haider al-Abadi ist zum dritten Mal mit dem Versuch gescheitert, das System der Postenvergaben je nach konfessioneller und ethnischer Zugehörigkeit zu überwinden. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Die Menschenmenge riss Betonabsperrungen um, die die Grüne Zone im Zentrum der irakischen Hauptstadt sonst hermetisch abriegeln. Fahrzeuge flüchtender Abgeordneter wurden attackiert. Die Sicherheitskräfte griffen nicht ein.
Für Anja Wehler-Schöck, Leiterin des Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Jordanien, ist unfassbar, wie die gegen Terrorangriffe errichteten Sperranlagen einfach überrannt wurden. "Da geht es nicht um einen Checkpoint, der gestürmt wurde, sondern das ist eine Serie von Checkpoints mit schwer bewaffneten Soldaten und Panzern", beschreibt Wehler-Schöck im DW-Gespräch den Weg in die Grüne Zone. Dort sind neben Parlament und Ministerien auch viele Botschaften und die UN-Vertretung untergebracht. Die FES-Büroleiterin geht davon aus, dass die Soldaten vor der Masse der Anstürmenden schlichtweg kapitulierten. Hätten sie geschossen, hätte es ein Blutbad gegeben.
Selfies im Parlament
Viele der irakischen Demonstranten erlebten den Sturm aufs Parlament offenbar wie ein Volksfest. Sie tanzten mit Fahnen in den Sälen, die sonst unzugänglich für sie sind. Sie machten Selfies und empörten sich über die rund um die Uhr wohl temperierten Büros, während Strom im Rest des Landes nur stundenweise fließt.
Entzündet hatte sich der Volkszorn am politischen und wirtschaftlichen Stillstand, der das Land seit Monaten lähmt. Die Terrormiliz "Islamischer Staat" kontrolliert weiter große Teile des Landes und verübte auch am Wochenende neue Selbstmordanschläge. Gleichzeitig wird die allgemeine Versorgungslage immer schlechter. Doch die politische Elite kümmert sich nur um ihre eigenen Privilegien - so die verbreitete Wahrnehmung.
Kompetenz statt Konfession
Aufgerufen zu den Protesten hatte der einflussreiche Schiitenprediger Muktada Al-Sadr. Seine Anhänger hatten über Monate für Reformen demonstriert. An die Stelle des Proporz-Systems, bei dem arabische Sunniten und Schiiten sowie Kurden eifersüchtig über die Postenvergaben je nach Bevölkerungsanteil wachen, soll eine Regierungsmannschaft aus Fachleuten treten. Kompetenz statt Konfessionszugehörigkeit lautete die allgemeine Forderung. Doch daran sind viele Parteien und Politiker nicht interessiert.
Zwei Drittel der Iraker sind Schiiten. Schiitische Allianzen dominieren das Parlament. Ihr bisheriges Zweckbündnis ist jedoch immer brüchiger geworden. Der ebenfalls schiitische Regierungschef Al-Abadi konnte sich schließlich noch nicht einmal mehr in den eigenen Reihen durchsetzen. Dabei war er vor zwei Jahren angetreten, das tiefe Misstrauen zwischen Sunniten, Schiiten und Kurden im Land zu überwinden.
"Der Regierungschef will das Kabinett neu besetzen, aber er hat eine sehr schwache Machtbasis", erläutert Dlawer Ala'Aldeen, Präsident des Middle East Research Instituts im nordirakischen Erbil. Nur noch eine Handvoll Abgeordneter stehe hinter dem Premier. "Seine größten Rivalen sind nun seine Parteigenossen und seine früheren Mitstreiter", sagt Ala'Aldeen. Al-Abadi sei für die Anarchie durch einerseits zögerliche und andererseits populistische Aktionen mit verantwortlich.
Versagen der politische Elite
Nach Einschätzung von Ala'Aldeen hat die gesamte politische Klasse des Landes versagt. Auch die Sadr-Bewegung trete zwar öffentlich für einen Wandel ein, verfolge aber vor allem ihre eigenen Interessen. "Ihre eigene Bilanz ist kein Deut besser, als die der anderen", urteilt der frühere Minister für Hochschulbildung in der Regionalregierung der irakischen Kurdengebiete.
Der schiitische Nachbarstaat Iran hat großen Einfluss auf die Politik in Bagdad. Doch auch dagegen sind am Wochenende Stimmen laut geworden. "Es ist schon bezeichnend, dass viele der Demonstranten im Parlament 'Iran out' gerufen haben", sagt die Forscherin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Iraks geistlicher Schiitenführer, Großayatollah Ali Al-Sistani, hält sich derweil weitgehend zurück. "Es gibt einen Unterschied zwischen der iranischen und der irakischen schiitischen Geistlichkeit: Der irakische Schiiten-Führer Al-Sistani sieht sich eben nicht als politischer Führer", sagt Wehler-Schöck. Im Iran hat dagegen der geistliche Führer das letzte Wort.
Zwar haben die Demonstranten den Regierungsbezirk wieder verlassen, doch wie es weitergehen soll, ist völlig unklar. Für eine Regierungsumbildung oder eine tiefgreifende Reform des Systems ist weiterhin eine Mehrheit im Parlament nötig. Allerdings gibt es derzeit noch nicht einmal einen sicheren Ort, an dem sich die Abgeordneten treffen könnten. Der Iraker Ala'Aldeen hält Neuwahlen für möglich: "Andernfalls muss man sich auf Chaos und Gewalt einstellen."