Neuer Anlauf für Intendantin Stefanie Carp
12. März 2019Es ist der zweite Anlauf für die 63-Jährige Kulturmanagerin, nachdem sie im Vorjahr die Leitung der Festspiele übernommen hatte - als erste Frau seit der Gründung 2002 - und sogleich in den Strudel politischer Streitereien geriet. Mit der Einladung der schottischen Band "Young Fathers" hatte sie sich zwischen alle Stühle gesetzt. Die Gruppe unterstützt das israelkritische Netzwerk "BDS". Die politischen Wogen schlugen hoch. Intendantin Carp musste sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigen. An Rhein und Ruhr wurde über die Freiheit der Kunst diskutiert.Irgendwann erschöpfte sich die Aufregung, zum Glück für die Leiterin.
Musiktheater, Schauspiel, Musik, das ist ihr Plan auch für 2019. Nicht ohne Stolz und sichtbar entspannt präsentierte Carp jetzt ihr Programm in den historischen Gebäuden der ehemaligen Zeche Zollverein in Essen. "Zwischenzeit", so hat sie den Veranstaltungsreigen überschrieben. Und er soll den Focus diesmal auf "europäische Selbstkritik" richten, Fragen nach "europäischen Privilegien und den Auswirkungen europäischer Dominanz" stellen, Demokratieverständnis hinterfragen und neue Zukunftsmodelle diskutieren, wie die Festivalchefin den versammelten Journalisten verkündete. Vom 21. August bis zum 29. September werden demnach mehr als 840 Künstlerinnen und Künstler aus 35 Ländern an den 35 Produktionen und Projekten an 13 Spielstätten zwischen Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck mitwirken.
Viele neue Höhepunkte
Zu den musiktheatralischen Höhepunkten zählt sicherlich die Uraufführung von "Evolution" des Film- und Theaterregisseurs Kornél Mundruczó, basierend auf György Ligetis "Requiem". Bei der Inszenierung geht es um europäische Geschichte, ein "Erinnern an das Grauen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft." Jan Lauwers' Schauspiel-Performance "All the good", Sharon Eyals Tanztheater "Chapter 3" oder auch Bruno Beltrãos neueste Choreographie sind weitere Highlights.
Die deutsche Erstaufführung von Heiner Goebbels' Musiktheater-Collage "Everything that Happened and Would Happen" geht ebenso über die Bühne wie David Martons Regiearbeit "Dido and Aeneas, remembered" und Faustin Linyekulas Produktion "Congo".
Experimentelle Chormusik
Im Musikprogramm dürfte "Coro", ein Stück Luciano Berios und vom Chorwerk Ruhr als Klangexperiment inszeniert, großen Anklang finden. Darin ist jeder Sängerstimme ein Orchesterinstrument zugeordnet. "Wir wagen hier eine neue Definition von Chormusik", verspricht der künstlerische Leiter Florian Helgath. Außerdem werden zwei Konzerte des Klangforums Wien unter Sylvain Cambreling erklingen.
Neugierig macht - neben weiteren Kunst- und Klanginstallationen - die geplante architektonische Sound-Konstruktion "Bergama Stereo" von Cevdet Erek. Der türkische Künstler bezieht sein Werk auf das antike Pergamon und bildet den berühmten Pergamon-Altar nun durch ein monumentales Lautsprecherfries in der Turbinenhalle des Bochumer Westparks nach.
Ein neuer Marthaler
Der fulminante Startschuss der Ruhrtriennale 2019 aber soll am 21. August mit Christoph Marthalers Musiktheater-Kreation "Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend" in der Ruhr-Universität Bochum fallen. Der Schweizer Regisseur, der schon im vergangenen Jahr mit einer spektakulären Arbeit überzeugte, will das Auditorium Maximum der Universität nun in ein futuristisches Weltparlament verwandeln. Die Zuschauer blicken in ein zerstörtes Europa. Es erklingen Kompositionen von Musikern, die während des Zweiten Weltkriegs deportiert, ermordet oder in die Emigration gezwungen wurden, im Kontrast zu politischen Reden aus Vergangenheit und Gegenwart. Sein Stück sei als Antwort auf den aufkeimenden Nationalismus und Populismus in Europa zu verstehen, sagte Marthaler in einer Videoaufzeichnung, die bei der Programmvorstellung vorgeführt wurde.
Vor dem Neuanfang
Vergessen schienen jetzt die unliebsamen Schlagzeilen vor Beginn der letztjährigen Ruhrtriennale. Bei der Vorstellung ihres Programms verlor Intendantin Carp kein Wort mehr über die Aufregung des Vorjahres. Vergessen die Forderungen einiger Landespolitiker nach einem Rücktritt der Kulturmanagerin, deren Job zwischenzeitlich am seidenen Faden zu hängen schien. Jetzt also steht die Intendantin vor einem Neuanfang.