Prostitution oder Abschiebung
23. Mai 2013"Die Mädchen werden Tag und Nacht überwacht," erzählt Gerlinde Matusch, "wir hatten auch schon welche, die waren zwei, drei Jahre nie aus ihrem Zimmer rausgekommen, die mussten die Männer dort empfangen, den ganzen Tag über, und am Abend brachte man sie in Bordelle oder zu Privatleuten." Gerlinde Matusch von der Frauenschutzorganisation Solwodi heißt nicht wirklich so. Aber sie möchte nicht, dass ihr Name irgendwo auftaucht. Nicht, weil sie Angst hätte. Aber die Zuhälter könnten versuchen, über sie an die Mädchen ranzukommen, die ihnen davon gelaufen sind, um sie zurückzuholen und erneut zur Prostitution zu zwingen.
In Deutschland werden jedes Jahr zwischen 600 und 800 junge Frauen aufgegriffen oder melden sich bei der Polizei, weil sie Opfer von Menschenhändlern geworden sind. Doch das dürfte nur die Spitze des Eisberges sein. Experten schätzen, dass in Deutschland mehr als 10.000 Frauen zur Prostitution gezwungen werden. Nur wenige schaffen es, sich zu befreien und wegzulaufen.
Die drohende Abschiebung bindet viele Frauen an ihre Zuhälter
Doch dann beginnt der zweite Teil ihres Leidensweges. Denn die meisten dieser Frauen sind illegal in Deutschland. Sie kommen vor allem aus Russland und aus der Ukraine, aber auch aus Afrika, meist aus Nigeria. "Oft wurden sie angelockt mit falschen Versprechungen von Jobs in Restaurants oder Hotels," sagt Anna Hellmann von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes, "hier angekommen, wird ihnen dann der Pass abgenommen und sie werden durch physischen oder psychischen Zwang zur Prostitution gezwungen." Doch wenn sie aufgegriffen werden, dann seien sie für die Polizei erst einmal Illegale, denen die Abschiebung droht.
Terre des Femmes fordert von der Bundesregierung, den Opfern von Menschenhandel und Zwangsprostitution ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht zu geben. Gerade die drohende Abschiebung erhöht den Druck, mit dem Zuhälter die jungen Frauen gefügig machen und gefügig halten. Viele Frauen bleiben aus Angst vor der Abschiebung bei ihren Peinigern. Die Hürden, die das deutsche Ausländerrecht für diese Frauen errichte, seien zu hoch, meint Anna Hellmann: "Nur wenn sie sich bereit erklären, in einem Strafverfahren gegen die Täter auszusagen, dürfen sie bis zum Abschluss des Strafverfahrens in Deutschland bleiben."
Doch die wenigsten der Frauen bringen dazu den Mut auf. Die Mädchen, die bei den Beratungsstellen von Solwodi ankämen, seien oft erst 18, 19 Jahre alt, sprächen kaum deutsch und seien in der Regel völlig eingeschüchtert, erzählt Gerlinde Matusch. Sie könnten sich oft nicht einmal an die Adresse erinnern, an der sie gefangen gehalten wurden: "Es ist immer gut, wenn wir die Mädchen dann in eine Schutzwohnung bringen können, damit sie Zeit haben, sich zu fangen und zu orientieren." Bis sie über ihre Erlebnisse reden könnten, würde es dauern: "Die reden ja kaum vor sich selbst darüber, sie können nicht darüber reden."
Besserer Schutz für die Opfer würde auch der Justiz helfen
Anna Hellmann von Terre des Femmes glaubt, dass ein unbefristetes Aufenthaltsrecht deshalb nicht nur den Frauen helfen würde. Die deutschen Behörden hätten auch bessere Chancen, die Frauenhändler vor Gericht zu bringen. In Italien gebe es seit einiger Zeit ein Aufenthaltsrecht für die Opfer von Zwangsprostitution: "Die Erfahrungen mit dem italienischen Modell zeigen, dass die Frauen, sobald sie sicher sind, in Italien bleiben zu dürfen, viel schneller bereit sind, in Strafverfahren gegen die Täter auszusagen."
Mit einer Lockerung der Abschieberegeln für Zwangsprostituierte käme Deutschland auch einer EU-Richtlinie nach, die einen besseren Schutz für die Opfer von Menschenhandel und eine schärfere Verfolgung der Täter verlangt. Doch die Bundesregierung sperrt sich bislang. Die Frist der EU zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht ist seit mehr als sechs Wochen abgelaufen. Zu einer Stellungnahme war das Innenministerium nicht bereit.
Die Angst vor der schwarzen Magie
Terre des Femmes fürchtet, dass die rigiden Abschieberegeln deutscher Behörden viele Zwangsprostituierte an ihre Zuhälter binden. Solwodi-Beraterin Matusch erläutert, dass zudem viele der Täter aus den selben Ländern wie die Opfer kämen und den Mädchen das Gefühl gäben, sie zu verstehen und sie zu beschützen in dieser fremden Welt: "Unter den Zuhältern sind oft Frauen, die früher selbst in der Prostitution waren, und die lassen jetzt andere für sich arbeiten und verdienen unheimlich viel Geld."
Die Betreuerin von Solwodi hat beobachtet, dass in den letzten Jahren viele afrikanische Mädchen aus Italien zur Prostitution nach Deutschland geschickt würden. Ob das mit dem fortschrittlicheren italienischen Aufenthaltsrecht zu tun hat und mit der Angst mancher Zuhälter, die Zwangsprostituierten könnten in Italien gegen sie aussagen, kann sie nicht sagen. Auffallend aber sei, dass einige Zuhälter ganz gezielt den tiefsitzenden Glauben junger Nigerianerinnen an die Kraft schwarzer Magie ausnutzten: "Ehe sie Italien verlassen, machen sie meistens dieses Zeremoniell - Zuzu - bei dem sie einen Eid ablegen, dass sie unbedingt ihre Schulden zurückzahlen." 40.000 bis 60.000 Euro verlangten die Schlepper von den jungen Frauen, erzählt Gerlinde Matusch, "und wenn sie das Geld nicht zurückzahlen, so wird ihnen gesagt, dann werde das Zuzu eingreifen und sie selbst oder jemand aus ihrer Familie würde dann verrückt oder krank oder sterben." Vor diesem bösen Zauber hätten die Mädchen sehr viel Angst "und deswegen wollen sie dann auch ihre Schulden bezahlen."