Aus Trauer und Verzweiflung wird Wut
8. August 2020Angesichts der regierungskritischen Proteste nach der Explosionskatastrophe von Beirut versucht der libanesische Regierungschef Hassan Diab auf die wütenden Bürger zuzugehen. In einer Fernsehansprache kündigte er vorgezogene Neuwahlen an. Nur so könne die Krise in dem Land überwunden werden, so Diab. Er werde seinem Kabinett daher am Montag Neuwahlen vorschlagen.
Zuvor hatten Demonstranten das Außenministerium in Beirut gestürmt und zum "Hauptquartier der Revolution" ausgerufen. Fernsehbilder zeigen, wie wütende Menschen kurze Zeit später auch Energie- und Handelsministerium unter ihre Kontrolle brachten. Erst nach Stunden konnte die Armee das Gebäude des Außenministeriums am Abend schließlich räumen. Auch der Sitz des libanesischen Bankenverbandes wurden gestürmt. Demonstranten legten dort Feuer, bevor sie von der Armee zurückgedrängt und die Flammen gelöscht wurden.
Tausende Protestierende marschierten durch die libanesische Hauptstadt. Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Die Polizei setzte Tränengas ein – wütende Libanesen warfen Steine und versuchten Absperrungen zu durchbrechen.
Bei den Zusammenstößen sind nach Angaben des Libanesischen Roten Kreuzes mindestens 172 Personen verletzt worden. 55 Menschen wurden in umliegende Krankenhäuser gebracht. Nach einem Bericht des Senders "LBCI" wurde ein Polizist getötet.
Zahl der Explosionsopfer steigt weiter
Viele Libanesen machen die politische Führung des kleinen Landes am Mittelmeer dafür verantwortlich, dass am Dienstag im Hafen Beiruts große Mengen der Chemikalie Ammoniumnitrat explodierten. Die Zahl der Toten stieg inzwischen auf 158, wie das Gesundheitsministerium mitteilte. Etwa 6000 Menschen wurden verletzt.
Das Motto der Protestkundgebung lautete "Gerechtigkeit für die Opfer, Rache an der Regierung". Die Demonstranten riefen unter anderem "Revolution, Revolution" und "Das Volk will den Sturz des Regimes".
Warnungen wurden nicht ernst genommen
Bereits im Oktober hatten Massenproteste gegen die Regierung begonnen. Die Demonstranten fordern weitgehende politische Reformen. Sie werfen der politischen Elite Korruption vor und beschuldigen sie, das Land rücksichtslos auszuplündern.
Die Wut ist auch deswegen so groß, weil offenbar das hochexplosive Ammoniumnitrat über Jahre ohne Sicherheitsvorkehrungen im Hafen lagerte. Berichten zufolge waren Warnungen vor der Gefahr in den Wind geschlagen worden. Am Freitagabend ordnete ein Richter die Festnahme von drei leitenden Hafen-Mitarbeitern an. Darunter befinden sich der Direktor des Hafens und der Chef der Zollbehörde.
Bei den Aufräumarbeiten nach der Explosionskatastrophe fühlen sich viele Libanesen von der Regierung im Stich gelassen. Gleichzeitig zeigen sie untereinander große Solidarität. In den stark zerstörten Vierteln rund um den Hafen sind täglich zahllose freiwillige Helfer im Einsatz.
Im Hafen gehen die Bergungsarbeiten weiter. Helfer zogen 25 Leichen aus den Trümmern. Einem Sprecher des Gesundheitsministeriums zufolge werden noch immer etwa 45 Menschen vermisst, überwiegend Hafenarbeiter.
Corona-Pandemie verschärft die Lage weiter
Seit Monaten leidet das Land unter der vermutlich schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seiner Geschichte. Die Corona-Pandemie verschärfte die Lage weiter. Die Inflation ist stark angestiegen. Viele Libanesen wissen kaum noch, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Die starke Explosion im Hafen treibt das Land endgültig an den Rand des Abgrunds. Die internationale Gemeinschaft hat sich bereit erklärt, den Libanon zu unterstützen.
Angesichts der Notlage in Beirut kündigte der deutsche Außenminister Heiko Maas ein Soforthilfepaket im Umfang von zehn Millionen Euro an. "Menschen in Beirut brauchen unsere Hilfe, und sie brauchen Anlass zur Hoffnung", sagte Maas der "Bild am Sonntag".
EU-Ratspräsident Charles Michel traf zu Gesprächen mit Staatschef Michel Aoun und anderen Spitzenpolitikern ein, wie der libanesische Präsidentenpalast mitteilte. Der Libanon könne sich auf die Solidarität der EU verlassen, twitterte Michel. "Nicht nur in Worten, sondern auch in konkreten Handlungen für das libanesische Volk."
Am Sonntag soll die von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron angekündigte internationale Konferenz zur Hilfe für den krisenerschütterten Libanon stattfinden - per Videokonferenz. Bei seinem Besuch am Donnerstag in Beirut hatte Macron jedoch deutlich gemacht, dass er von der Regierung grundlegende Reformen fordert.
nob/AR/kle (dpa, afp, rtr, ap)