"Angst und Hoffnung liegen in der Luft"
24. Oktober 2022Fast sechs Wochen nach dem Tod von Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam protestieren die Menschen im Iran weiter. "Wir sind wütend. Ich glaube nicht, dass diese Wut bald nachlässt", sagt die 29-jährige Azadeh von der Hauptstadt Teheran.
Dass die 22-jährige Amini wegen eines angeblich nicht "angemessen" getragenen Hijab von der Sittenpolizei verhaftet und kurz darauf leblos ins Krankenhaus eingeliefert wurde, könne das Schicksal jeder Frau im Iran sein, sagt Azadeh. "Wir wissen, wie brutal die Sittenpolizei gegen uns vorgeht. Ich trage trotzdem kein Kopftuch mehr. Das habe ich auch früher schon öfter gemacht, so wie viele andere junge Frauen in Teheran. Aber jetzt ist es anders. Jetzt sind auch viele ältere Frauen ohne Kopftuch unterwegs. Es geht nicht mehr um eine persönliche Entscheidung. Es ist ein Zeichen der Solidarität."
Weitere Festnahmen von Frauen ohne Hijab
Azadeh berichtet, dass immer mehr Frauen inzwischen ohne Kopftuch in der Stadt unterwegs seien, viel mehr, als man durch Bilder und Videos im Internet feststellen könnte. Seit Anfang der Massenproteste im Iran wurde die Internetgeschwindigkeit so stark gedrosselt, dass an manchen Tagen auch VPNs nicht mehr funktionieren. Viele Internetuser im Iran nutzen dieses "Virtual Private Network" (VPN), um die Zensur zu umgehen und sich durch einen virtuellen Tunnel mit dem globalen Internet zu verbinden.
Viele Frauen, die eigene Bilder ohne Kopftuch im Netz posten, verstecken ihre Gesichter nicht mehr, wohl wissend, dass sie jederzeit verhaftet werden können. So wie die Dokumentarfilmerin Mojgan Ilanlu. Die Sicherheitskräfte haben sie am 17. Oktober zu Hause verhaftet. Sie war aus Solidarität mit protestierenden Frauen ohne Hijab spazieren gegangen und hatte Bilder von sich in sozialen Netzwerken gepostet.
Kein Kopftuch vor Autorität
Einige Frauen werden mutiger. Eine Studentin der Teheraner Sharif-Universität zum Beispiel betrat am 22. Oktober vor das Rednerpult auf der Bühne in der Aula ohne Kopftuch. Der konservative Universitätsrektor Rasool Jalili saß dabei in der ersten Reihe. Noch bleibt sie, soweit bekannt, straffrei.
Rektor Jalili selbst steht auch unter Druck. Anfang Oktober hatten Sicherheitskräfte seine Universität abgeriegelt, Studierende und Professoren verprügelt und viele von ihnen festgenommen. Studenten werfen Jalili vor, selbst die Sicherheitskräfte informiert zu haben. Er bestritt die Vorwürfe.
In der Sharif-Universität wie auch an vielen anderen Universitäten kommt es fast täglich zu neuen Protestaktionen. Die Sicherheitskräfte mischen sich zwar nicht direkt ein, aber sie verhaften die Protestierenden später. Die Liste der inhaftieren Studierenden wächst täglich weiter an.
Hymne der Solidarität
"Auf der Straße werden die Protestierenden sofort niedergeschlagen", erzählt eine junge Mutter im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Zivile, aber bewaffnete Sicherheitskräfte sind überall. Sie schießen willkürlich auf die Menschen. Ich habe Angst, mich den Protesten anzuschließen. Aber trotzdem öffnen wir jeden Abend das Fenster, lassen laut den Song 'Baraye' laufen."
"Baraye" bedeutet "Dafür". Der Song wurde von dem jungen Komponisten und Sänger Shervin Hajipour produziert. Der Text besteht aus Tweets, in denen Demonstrierende erklären, was sie bewegt, auf die Straße zu gehen. An einer Stelle heißt es zum Beispiel: "Dafür, einmal auf den Straßen tanzen zu können; dafür, uns ohne Angst zu küssen!" Sein Song "Baraye" wurde innerhalb von wenigen Tagen millionenfach gehört und verbreitet. Das Lied wurde über Nacht zur Hymne der Protestbewegung, auch außerhalb des Irans.
Dankbarkeit für Großdemo in Berlin
Im Iran freuen sich viele Menschen über die Solidarität ihrer Landsleute, die im ausländischen Exil leben. Die große Demonstration in Berlin hat viele Menschen beeindruckt. Die Teilnehmenden in Berlin forderten das Ende des Regimes im Iran. Viele von ihnen riefen "Tod dem Diktator" und meinten damit das religiöse Oberhaupt Ali Chamenei.
Der 37-jährige Reza aus der iranischen Nordwestprovinz Aserbaidschan sagt: "Es ist unglaublich, dass so viele Auswanderer, verteilt über die ganze Welt, sich auch nach jahrelangem Exil im Ausland so engagieren und sich dafür einsetzen, dass der Traum von Freiheit für uns alle in Erfüllung geht."
"Für grundlegende Veränderungen im Iran müssen wir einen sehr hohen Preis bezahlen", glaubt der 52-jährige Alireza aus der Stadt Ghazvin. "Ich fürchte aber, dass viele ältere Menschen dazu nicht bereit sind. Ich und auch viele andere, die schon Festnahme und Gefängnis im Iran erlebt haben, gehen nicht auf die Straße."
In der Südwestprovinz Chuzestan am Persischen Golf sagt Mohammad, ein 35-jähriger Aktivist, dass junge Menschen trotz der Verhaftungswellen in den vergangenen Jahren auf der Straße protestieren, zuletzt in der Stadt Dezful am 22. Oktober. Auch Schüsse sollen gefallen sein. Meldungen über Tote oder Verletzte gibt es dagegen nicht. "Jedes Mal haben die Sicherheitskräfte die Proteste brutal niedergeschlagen und die Organisatoren verhaftet. Die Gefängnisse hier sind noch voll von politischen Gefangenen."
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisationen sind bisher mehr als 240 Menschen in verschiedenen Städten des Iran im Zusammenhang mit den Protesten gestorben. Darunter seien auch 32 Minderjährige, berichtete die US-Organisation Human Rights Activists News Agency. Insgesamt sollen bis jetzt mehr als 12.000 Menschen festgenommen worden sein.
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