Halle-Anschlag: Die Wunden bleiben frisch
20. Juli 2020Die Laubbäume an der Humboldtstraße in Halle haben sich in ein sommerlich grünes Blattkleid gehüllt. Die Straße ist heute fast menschenleer, ganz anders als bei meinem Besuch hier am 10. Oktober 2019. Eine große, schweigende Menschenmenge hatte sich damals versammelt, einen Tag, nachdem ein 27-jähriger Mann auf die Holztür der Synagoge geschossen hatte.
Das Einzige, was mich heute an die schreckliche Atmosphäre dieses Tages erinnert, ist der Polizeiwagen, der unauffällig an der nächsten Ecke steht. Und die etwa ein Dutzend Einschusslöcher, die immer noch im Holz rund um das Schloss der Synagogentür klaffen.
Eine Tür hält stand, zwei Menschen sterben
Die Standhaftigkeit dieser Tür hat vermutlich das Leben der etwa 50 Menschen gerettet, die sich zur Jom-Kippur-Feier in der Synagoge versammelt hatten. Welch grausame Ironie: Der Rechtsextreme Stephan B. hatte es auf Minderheiten abgesehen, er griff das jüdische Gotteshaus und ein türkisches Fastfood-Restaurant an - doch die beiden Menschen, die er mit seiner schlecht funktionierenden selbstgebauten Pistole getötet haben soll, waren nicht-jüdische Deutsche. Ihm wird vorgeworfen, die 40-jährige Jana L. erschossen zu haben, als sie an der Synagoge entlang ging. Kevin S., einen 20-jährigen Bauarbeiter, der gerade Mittagspause machte, soll er im Kiez-Döner, einem Imbiss drei Straßen weiter, getötet haben.
Unter den Hunderten Menschen, die es am nächsten Tag zur Humboldtstraße zog, waren Anwohner, Reporter und einige Politiker, umgeben von Polizisten. Der Schock über das Verbrechen und eine stille Verzweiflung lagen schwer in der Luft. Journalisten wie ich sahen etwas ratlos aus. Über die Nachwirkungen solch schrecklicher Ereignisse zu berichten, ist wohl der schlimmste Teil des Jobs. Was sollen wir sagen? Was fragen wir die Menschen? Was sie empfinden, ist doch so offensichtlich, dass alles Fragen überflüssig und aufdringlich erscheint.
Umzug nach dem Pogrom
Acht Monate danach ist es wieder sehr still in der Humboldtstraße. Die Synagoge und der angrenzende Friedhof liegen hinter einer hohen Backsteinmauer, sind nur vom Bürgersteig gegenüber aus gut zu sehen. Etwa 500 Meter sind es von hier bis zum Kiez-Döner. Im Inneren des Imbisses schmücken kleine Engelsfiguren eine Wand, dazu Blumen und Trikots mit Autogrammen der Fußballer des Halleschen FC. Darunter: Handgeschriebene Botschaften an den Fußballfan Kevin S., der hier starb.
Viele Menschen in Halle haben immer noch Schwierigkeiten, wirklich zu fassen, was hier passiert ist. Ein Mann, der damals auf die Straße ging, um den Opfern seinen Respekt zu erweisen, sagte mir, er habe es immer sehr traurig gefunden, dass die Synagoge von einer Mauer umgeben sei.
Was ihn vielleicht noch trauriger gemacht hätte, und was ich damals nicht wusste: Die Synagoge war zunächst nicht als Gotteshaus gedacht. Sie wurde 1894 als Tahara-Haus, als eine Art Begräbniskapelle, gebaut. Nachdem die Hauptsynagoge in der Hallenser Altstadt während der Nazi-Pogrome im November 1938 niedergebrannt worden war, zog die jüdische Gemeinde an diesen weiter abgelegenen und vermeintlich geschützteren Ort.
Die Bedrohung war real
Nun hat die kleine jüdische Gemeinde beschlossen, die Synagoge noch etwas weiter aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken. Reporter und Fernsehteams dürfen nicht in das Gebäude. Max Privorozki, der in Kiew geborene Gemeindevorsitzende, gibt Interviews in seinem Büro am anderen Ende der Stadt. Er erklärt mir, dass die Polizei über ein automatisiertes System umgehend informiert wird, wenn sich im Gemeindealltag etwas ändert. So wissen die Beamten sogar, wenn ein Sprachlehrer seine Unterrichtsstunde absagt. Über Details dieses Systems will er lieber nicht sprechen.
Privorozki ist dankbar, dass sich die Polizei nun kümmert. Er lässt aber auch durchblicken: Solche Maßnahmen hätten schon früher in Kraft treten können. Nach dem Angriff fragten sich viele, warum am Feiertag Jom Kippur keine Polizisten vor der Synagoge Wache hielten, so wie das in deutschen Großstädten üblich ist, etwa in Berlin und Köln.
Die wachsende Bedrohung durch Antisemitismus war für die wenigen hundert Juden, die in Halle leben, bereits vor dem Anschlag offensichtlich. Und nun? "Was ich beobachte, ist eine qualitative Veränderung von antisemitischen Vorfällen. Das hat mit dem Anschlag selber nichts zu tun," sagt Privorozki der DW. "Sich als Antisemit zu zeigen, war schon in den vergangenen Jahren vielen Menschen absolut nicht peinlich."
Die Erinnerung an das Grauen
"Menschen wie ich, die das miterlebt haben, werden nicht darüber sprechen", sagt Privorozki, wenn man ihn nach dem 9. Oktober 2019 fragt. "Das kann möglicherweise nur derjenige verstehen, der an dem Tag in der Synagoge war beziehungsweise einen anderen Terroranschlag überlebt hat. Das ist ein Ereignis, dass man für sich behält und selber verarbeitet, manchmal mit psychologischer Hilfe, manchmal ohne Hilfe, aber trotzdem ist das etwas Privates."
Ihm selbst geht es heute einigermaßen gut: "Ich habe Glück. Ich habe viel Arbeit zu erledigen, so dass ich keine Zeit habe, über andere Dinge nachzudenken", sagt er. Doch auch er hat eine neue Furchtsamkeit an sich bemerkt, etwa wenn er einen Hubschrauber oder ein Feuerwerk hört.
Dem Tod entkommen
Auch Ismet Tekin, der dem Angriff auf den Kiez-Döner um einige Sekunden entging, spricht nicht über diesen Tag. Er ging gerade zum Laden, um seine Schicht zu beginnen, als der Attentäter herauskam und auf ihn schoss. Zuvor hatte dieser bereits mehrmals auf den einzigen Kunden im Inneren des Ladens geschossen. Heute betreiben Tekin und sein Bruder das Geschäft, der Vorbesitzer hatte es ihnen nach dem Angriff übertragen. "Diesen Tag zu erleben, war schrecklich, das kann sich niemand vorstellen. Das wünsch ich niemanden, das zu erleben," sagt er der DW.
Die Corona-Pandemie und die unvermeidliche finanzielle Katastrophe, die sie für viele kleine Bistros mit sich brachte, hat das Leben für Tekin nicht einfacher gemacht. Er hat wenig von der Hilfe bemerkt, die die Stadt nach dem Angriff versprochen hatte. Aber durch die Serie von Krisen - erst der Anschlag, dann die Pandemie - denkt der 36-Jährige umso humanistischer. "Menschen sind mehr wert als alles. Corona hat das gezeigt. Jede Stadt war wie ein Horror-Film - leer, still."
Was jetzt?
In Halle - wie auch in Chemnitz und Hanau und all den anderen Städten, die in den vergangenen Jahren rechtsextreme Terroranschläge erlebt haben - schwebt eine Frage über allem: Es ist die Frage nach den Konsequenzen.
Torsten Hahnel kennt die rechtsextreme Szene in Halle gut, er hat mehr als drei Jahrzehnte lang gegen sie gekämpft. Der Gründer der Anti-Rassismus-Initiative "Miteinander" hat beobachtet, wie sich die Szene entwickelt hat. In den 1990er Jahren gab es die Subkultur der Skinheads und Neo-Nazis, und Gewalt auf der Straße und sogar Morde bekamen kaum Aufmerksamkeit in den Medien. Mittlerweile ist das Auftreten rechter und rechtsextremer Kreise in der Öffentlichkeit mehr oder weniger toleriert, von der Partei Alternative für Deutschland (AfD) bis zu angeblich vereinzelten Gewalttaten. Nach Angaben des Verfassungsschutzes gibt es im Land Sachsen-Anhalt rund 1.230 aktive Rechtsextremisten.
Hahnel erinnert sich an den Schock, der in den Tagen nach dem Anschlag in Halle herrschte. Er sei von der ersten Reaktion der Bevölkerung "positiv überrascht" gewesen: Eine Menschenkette bildete sich, um der Synagoge symbolisch Schutz zu bieten. Tausende Menschen versammelten sich spontan auf dem Marktplatz, entzündeten Kerzen und legten Kränze nieder.
"Das Gefühl in der Stadt hatte sich völlig verändert", sagt er. "Alle waren erschüttert, man hatte das Gefühl, da sein zu müssen. Und dann war die Frage: Was jetzt?" Eine Frage, die nicht einfach zu beantworten sei, sagt Hahnel. "Ich weiß auch nicht so genau, wie sich eine Stadt nach einem solchen Anschlag verändern sollte."
Zerschlagene Hoffnung
Trotz anfänglicher Erschütterung und Solidarität: die Menschen in Halle hätten sich nun wieder in einer müden Toleranz gegenüber Rechtsextremen eingerichtet. Die wöchentlichen, oft ausdrücklich antisemitischen Demonstrationen gibt es noch immer. Sie sind zwar klein, aber sie gehören zum Straßenbild dazu. Kaum jemand empört sich, abgesehen von einigen wenigen Antifa-Aktivisten.
"In den Tagen danach habe ich wirklich geglaubt: Vielleicht gibt es eine Nachhaltigkeit, die dem Wahnsinn entspricht", sagt Hahnel. "Eine neue Organisationsform, mehr Leute, die zu Aktionen kommen, mehr Leute, die einen unterstützen." Diese Hoffnung jedoch hat sich zerschlagen. "Es geht nicht um Vorwürfe", fügt der gebürtige Hallenser schnell hinzu. "Es ist so eine Wahrnehmung."