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Politik

Angekommen in der alternativen Realität

Michael Knigge
24. Januar 2017

Nach drei Tagen Donald Trump als US-Präsident ist der Reporter in Washington wie viele Menschen im Land erstaunt und ernüchtert. Doch das vorherrschende Gefühl ist, Zeuge eines historischen Umbruchs gewesen zu sein.

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Washington Women's March Trump Proteste
Bild: DW/F. Kroker

Wer Donald Trump nicht nur im Wahlkampf, sondern vor allem auch als gewählten Präsidenten beobachtete, der hatte nur wenig Hoffnung, dass er nach seiner Amtseinführung plötzlich Kreide fressen würde. Doch wie Trump dann an seinem ersten Wochenende als Präsident auftrat, fanden nicht nur viele seiner Gegner verstörend. Den Auftakt machte eine nationalistisch anmutende, in aggressivem Duktus vorgetragene Amtseinführungsrede, wie sie Washington noch nicht gehört und gesehen hatte.

Als wäre das nicht Konventionsbruch genug für ein normalerweise von nationaler Versöhnung und Freude geprägtes Festwochenende gewesen, legte Trump Stunden später gleich doppelt nach. Er lieferte sich einen bizarren Schlagabtausch mit den Medien über die Zuschauerzahl seiner Amtseinführung. Trumps Beharren, seine Amtseinführung sei die größte aller Zeiten gewesen, gipfelte darin, dass sein Pressesprecher erst Unwahrheiten zu Wahrheiten erklärte und eine Top-Präsidentenberaterin dies später als "alternative facts", also "alternative Fakten" bezeichnete. Damit nicht genug, erklärte Trump am selben Tag bei seinem Antrittsbesuch bei der CIA wahrheitswidrig, er habe keinen Streit mit den Geheimdiensten gehabt, dies sei nur von den Medien konstruiert. Den Rest der Rede sprach er viel über sich selbst und wenig über die Dienste.

Kellyanne Conway (Foto: Reuters/J. Roberts)
"Alternative Fakten": Trump-Beraterin ConwayBild: Reuters/J. Roberts

Bruch von Tradition und Konvention

So ungewohnt, so radikal, so schnell war der Bruch von Traditionen und Konventionen, der sich am Wochenende in der amerikanischen Hauptstadt vollzog, dass Journalisten in Washington mitunter gar nicht erst fragen, sondern nur zuhören mussten. So schüttete eine grauhaarige Frau im Trenchcoat, Mitte 70, der Kassiererin im Drogeriemarkt unweit des Weißen Hauses plötzlich ihr Herz aus. Ungefragt, während sie ihre Waren auf den Scanner legt, sprudelte es aus ihr heraus: "Ich versuche immer noch damit klar zu kommen was passiert ist", sagte sie. "Und das haben wir jetzt vier Jahre lang", ergänzte sie, seufzte und schob ein "wenn wir Glück haben" hinterher.

Das fasst zwar den aktuellen Gemütszustand vieler Menschen hier und anderswo ziemlich gut zusammen, reicht aber als Beschreibung dessen, was seit Freitag passiert ist, nicht aus. Und sicherlich ist es dafür auch nach drei Tagen Donald Trump viel zu früh. Denn der Versuch, den Bruch mit der unmittelbaren Vergangenheit - sprich der Amtszeit Barack Obamas - aber auch der weiteren Vergangenheit - sprich Obamas Vorgänger -, erklärend in Worte zu fassen, ist schwierig.

Alternative Realität

Denn es geht nicht nur um den Ton, den Stil, die politische Haltung und das Amtsverständnis des neuen Präsidenten, das sich so drastisch von allem Bekanntem unterscheidet. Es geht zwar um all das, aber es geht eben auch um Donald Trump selbst und die Zeit, in der sein Aufstieg vom Reality-TV-Star zum Präsidenten möglich wurde. Deshalb fällt es vielleicht leichter zu sagen, wie sich das, was seit Freitag 12 Uhr Ortszeit Washington passiert ist, anfühlt, als es schon adäquat zu beschreiben. Und in Anlehnung an die Worte von Trumps Top-Beraterin fühlen sich die ersten drei Tage der Präsidentschaft von Donald Trump an wie eine "alternative reality", also eine alternative Realität.

Donald Trump besucht CIA-Hauptquartier (Foto: Reuters/C. Barria)
Zu Besuch im CIA-Hauptquartier: Donald TrumpBild: Reuters/C. Barria

Und das ist nicht in einem übertragenen Sinne gemeint. Denn genauso wie es bislang schlicht nicht vorstellbar war, dass ein US-Präsident bei seinem ersten Auftritt bei der CIA nachprüfbar die Unwahrheit sagt, war es bislang ebenso wenig denkbar, dass ein US-Präsident in seiner Amtseinführungsrede von "carnage", also einem Blutbad oder einem Gemetzel spricht, damit jedoch nicht etwa die Lage in Syrien meint, sondern in amerikanischen Städten.

Neuer Normalzustand

Jetzt ist all dies nicht nur vorstellbar, sondern Realität geworden. Vieles von dem, was bislang als gesetzt galt in der amerikanischen Politik, gleich ob ein demokratischer oder republikanischer Präsident regierte, scheint seit vergangenem Freitagmittag außer Kraft gesetzt worden zu sein. Das Gefühl dieses Bruchs wurde wahrscheinlich noch verstärkt vom krassen Gegensatz zwischen dem bisherigen und dem neuen Präsidenten: auf der einen Seite der kühle und coole erste schwarze Präsident des Landes, auf der anderen Seite der weiße, impulsive und älteste Präsident des Landes.

Ob diese alternative Realität nur ein kurzes Intermezzo war, oder wie viele hier befürchten, das "new normal", also der neue Normalzustand sein wird, wird sich zeigen. Die Reaktionen auf die ersten Tage der Trump-Präsidentschaft, zum Beispiel beim Womens March hier in Washington, aber auch anderswo, sind ein Hinweis, dass der Kampf um die Definition der Realität möglicherweise gerade begonnen hat.