Putin und wie er die Welt sieht
2. März 2018Es soll eine große Putin-Show werden am Samstag im Moskauer Luschniki-Stadion. Hunderttausend Anhänger werden dem russischen Präsidenten dort wohl zujubeln. Vor den Wahlen am 18. März hat Putin voll auf Wahlkampfmodus geschaltet. Schon am Donnerstag zeigte er in seiner Rede zur Lage der Nation, wie der aussieht: viel Versprechungen ans eigene Volk, harte Rhetorik Richtung Westen. "Niemand wollte mit uns reden, niemand wollte uns zuhören", fasste er die russischen Erfahrungen der letzten Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte zusammen. "Hört uns jetzt zu!", appellierte er an die politischen Akteure auf der Weltbühne, unter starkem Applaus seitens des Publikums.
"Hört uns jetzt zu!" Es ist nicht auszuschließen, dass die neuen Raketen, die Putin versprach, auch, vielleicht sogar vor allem zu einem dienen: Russland endlich wieder den aus Moskaus Sicht gebührenden Platz zwischen den Großmächten der Welt verschaffen. "Hört uns jetzt zu": Das weckt den Eindruck, als habe Russland eine gewaltige politische Schrumpfkur hinter sich, hätte im Kalkül der Großen zuletzt überhaupt keine Rolle mehr gespielt.
Fehler des Westens
Das Gefühl sei nicht unbegründet, sagt der Historiker Odd Arne Westad, Autor einer Geschichte des Kalten Krieges. Nach Ende des Wettrüstens sei vieles falsch gelaufen, und das auf beiden Seiten. "Europa und die Vereinigten Staaten hätten mehr tun können, um Russland in die globale ökonomische und politische Ordnung einzubeziehen."
Das hätten beide aber versäumt - mit schwer wiegenden Folgen für die westlich-russischen Beziehungen: "Viele Russen fühlten sich aus Europa und von der Weltordnung ausgeschlossen. Das schuf erhebliche Unzufriedenheit und Besorgnis. Putin kam nicht aus dem Nichts. Er ist in hohem Maß das Produkt dieses Widerwillens. Diesen Umstand beutete er politisch aus."
Ein weites Gefäß
Putin als Geschöpf der allgemeinen Zerknirschung. Diese Rolle, schreibt der französische Autor und Russland-Experte Michel Eltchaninoff in seinem Buch "In Putins Kopf", war auf den Präsidenten und Premier wie zugeschnitten - und zwar darum, weil er es verstand, die vorherrschenden Empfindungen umgehend aufzugreifen und in ein politisches Programm zu verwandeln.
Ob er sie auch selbst vertritt? Denkbar wäre es, schreibt Eltchaninoff. Aber darauf komme es im Grunde gar nicht an: "Der russische Präsident möchte seine Spuren in der Geschichte hinterlassen. Dafür sind Ideen unverzichtbar, die tief in der Geschichte des Landes verankert sind. Die Frage, ob er an sie glaubt oder nicht, ist dabei nebensächlich. Vielleicht ist Wladimir Putin wie Dostojewskis Held Dmitri Karamasow ein "weites Gefäß", zugleich ernsthaft zynisch und ernsthaft idealistisch."
Klar sei aber, dass er alsbald eine außenpolitische Agenda entwickelte, die in weiten Teilen jener Linie folgt, die ein russischer Think Tank um das Jahr 2000 entwickelt hatte.
Eine Weltmacht, heißt es dort, bemühe sich nicht nur, die Interessen ihrer eigenen Bürger zu befriedigen, sondern müsse auch im Interesse der Bürger anderer Staaten, anderer Länder arbeiten. "Je mehr einzelne Bürger anderer Staaten Russland brauchen, desto beständiger ist die Position Russlands in der Welt. Die Grundlagen der Beständigkeit und Nützlichkeit kann und muss das zu formierende russische Staatswesen im Bereich der Russischen Welt suchen, in einer Politik der konstruktiven Entwicklung seiner weltweiten Netzwerke."
Machtpolitik ohne Ziel
Dieser Linie ist Putin konsequent gefolgt. Russland hat sich in Syrien festgesetzt und verfügt dank der engen Zusammenarbeit mit Iran inzwischen über erheblichen Einfluss in der gesamten Region. Angesichts des aggressiven Vorstoßes in der Ukraine halten sich EU und NATO mit Erweiterungen zurück. Auch in Lateinamerika, Afrika und Ostasien ist Moskau präsent. Zu dieser Politik passt auch der diese Woche bekannt gewordene Hackerangriff auf das Datennetzwerk der deutschen Bundesregierung. Offen ist in allen Fällen, welches konstruktive Ziel diese Machtpolitik eigentlich verfolgt.
Klar ist aber: Russland stellt sich außenpolitisch breit auf. "2018 ist das Jahr, in dem sich Russland endgültig als globaler Player etabliert haben wird", schreibt Liana Fix, bei der Koerber-Stiftung für den Deutsch-Russischen Internationalen Dialog zuständig, in einem Gastbeitrag für die Neue Zürcher Zeitung. "Russlands expansive Agenda ist kein Ausflug und keine Ablenkung mehr, sondern geopolitische Realität."
Kontrollierte Destabilisierung
Die Eigenschaften dieser Realität, schreibt der DGAP-Russlandexperte Stefan Meister, zeigten sich nun immer deutlicher: "Für die russische Führung befinden wir uns in einer Phase der Transformation zu einer Weltordnung, in der weniger vereinbarte Regeln und internationales Recht gelten als vielmehr die Macht des Stärkeren. Im Gegensatz zu Deutschland und zur EU ist Moskau besser auf diese neue Welt vorbereitet, da es mit Chaos, Unsicherheiten und Zonen schwacher oder fehlender Staatlichkeit Erfahrungen hat. Es schafft diese sogar systematisch durch seine Politik der 'kontrollierten Destabilisierung', wie in der Ostukraine, um westlichen Einfluss zurückzudrängen."
Fraglich ist aber, ob das Kalkül, mit außenpolitischen Trümpfen die schwierige Lage im Inneren vergessen zu machen, auf Dauer aufgeht. Denn der russische Präsident widmete sich in seiner Rede auch der Sozialpolitik seines Landes. 20 Millionen russische Bürger seien arm. Diese Zahl will Putin während der nächsten Legislaturperiode halbieren. Das Wohlergehen der Bürger sei die Messlatte der Politik: "Da müssen wir in den nächsten Jahren einen Durchbruch erzielen", bekannte er in seiner Rede. Kinderbetreuung, Wohnungsbau, Stadt- und Regionalentwicklung, dazu der Straßenbau: All dies solle nun angegangen werden. Woher das Geld für diese Projekte kommen soll, ließ er offen.
Westliche Optionen
Das offene Wort zu den nationalen Schwächen enthält einen Hinweis darauf, wie der Westen am klügsten auf die russische Politik antworten könnte: nämlich durch die Hinwendung zu jenen Kräften, die sich für politische und individuelle Freiheiten einsetzen, die Stagnation der Putin-Jahre überwinden wollten.
Diesen Kräften gehöre die Zukunft, ist Stefan Meister überzeugt. Ihr könnte sich Putin nicht dauerhaft entgegenstellen: "Zwar gibt es im Moment keine relevante Opposition, die Putin gefährlich werden könnte. Doch die wachsende soziale Ungerechtigkeit, administrative Fehlentscheidungen und Korruption bleiben nicht unbemerkt und nicht ohne Folgen: Die Zunahme spontaner Demonstrationen in verschiedenen Landesteilen weist darauf hin, dass die nächsten sechs Jahre für Putin mehr Ressourcen nach innen binden werden."
In anderen Worten: Der derzeit so robuste außenpolitische Kurs kann den Wandel des Landes langfristig nicht aufhalten. Ein anderes Russland ist absehbar. Wie es aussehen wird, darauf kann der Westen mit einer klugen Politik zumindest ansatzweise Einfluss nehmen.