Putins Russland: In der Dunstglocke von Demagogen
3. März 2022Als Wladimir Putin seine Rede um 15:47 Uhr beschließt, erheben sich die hunderten Abgeordneten. Ganz Deutschland, scheint es, applaudiert dem jungen russischen Hoffnungsträger. Es ist der 25. September 2001. Putin spricht im deutschen Bundestag über die Einheit der europäischen Kultur, den Fürsten von Hessen-Darmstadt und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft. Er spricht auf Deutsch. Und am Ende entflammt er die Herzen aller Parlamentarier - von der sozialistischen Linken bis zu den Transatlantikern der konservativen Union - als er schwärmend schließt: "Wir leisten unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des Europäischen Hauses." Putin, der Europäer.
Über zwanzig Jahre später liegen Begeisterung, der demokratische Aufbruch Russlands und der russische Weg nach Europa in Schutt und Asche. Russland führt Krieg in Europa. Was ist passiert?
Ideologie der Machtsicherung
"Ich denke nicht, dass Putin einer bestimmten Ideologie folgt, er bedient sich unterschiedlicher Versatzstücke, um sein verbrecherisches Handeln zu legitimieren." So analysiert es die Slawistik-Professorin Sylvia Sasse von der Universität Zürich. Putin gehe es vor allem darum, seine Macht im Inland zu erhalten "und um die Erweiterung in Gebiete, die er ‘russische Welt' nennt", so Sasse im Interview mit der DW.
Dabei berufe er sich zunehmend auf konservative, antidemokratische Ideen und zitiere sie auch in seinen Reden, beobachtet Sasse. Etwa den monarchistischen Philosophen Ivan Ilyin oder den völkischen Nationalisten Lew Gumilev. "Putin befindet sich in einer Dunstglocke von ethnonationalistischen, oftmals antisemitischen, autokratischen Demagogen, wie sie auch die Neue Rechte weltweit kennzeichnet", sagt Sasse.
Einer ihrer schillernden Gesichter ist Alexander Dugin. Verantwortlich für Kriege auf der Welt ist seiner Meinung nach eine vermeintliche ‘globale Elite‘: "Sie zerstören Länder". Den Demokratiebegriff des Westens lehnt er ab. Und für die Russen definiert er ein abweichendes Menschenbild: "Für uns Russen ist Menschsein gleichbedeutend mit der Zugehörigkeit zu dem Ganzen. Für uns ist der Mensch kein Individuum.", sagte er in einem Interview mit dem kanadischen Fernsehen.
Kampf dem Westen
Dugin ist einer der Stars der sogenannten Neuen Rechten. Seit Jahren wird über sein Verhältnis zum russischen Präsidenten Putin spekuliert. Nachprüfbar ist das angesichts von Putins Abschottung nicht. Er ist aber ein gern gesehener Gast in den kremltreuen Medien. Und Experten sehen zahlreiche ideologische Überschneidungen. So beschreibt Dugin auf der Internetplattform VK den Kampf gegen die Ukraine als die Bedingung für die Wiedergeburt des russischen Imperiums. Und der "Westen" steht in Dugins Ideologie für Tod, Selbstmord und Degeneration.
Auch in Deutschland und anderen europäischen Staaten findet er mit seiner rechtsextremen antiliberalen Ideologie Anhänger. Er hält auch Beziehungen zur US-amerikanischen Alt-Right Bewegung und traf sich etwa 2018 mit Steve Bannon in Rom. Dugin ist ein großer Unterstützer Donald Trumps. Nach dessen Wahlsieg erklärte er dem türkischen Fernsehsender TRT im Dezember 2016: "Von nun an ist Amerika wieder groß – aber nicht mehr imperialistisch."
Eine Frage der Identität
Der Historiker Igor Torbakov von der schwedischen Universität Uppsala beobachtet und beschreibt die geistige Entkopplung von Europa in Putins Russland seit Jahren. Torbakov sieht im Handeln Putins auch ein Ringen um die Frage nach der russischen Identität: Wie sehr ist Russland von Europa geprägt? Wie sehr von Asien? Und wie eigenständig ist diese Identität?
Das Streben der Ukraine, in die EU aufgenommen zu werden, beschrieb Torbakov in einem Harvard-Vortrag im Jahr 2016 als eine Erschütterung für das russische Konzept von einer eigenständigen slawischen Identität. Am Ende sei dieses Bestreben eine Gefahr für den Anspruch Putins Russland auf einen Platz unter den Großmächten.
Als besondere Herausforderung für die Kremleliten beschreibt Torbakov – kurz vor Beginn des Krieges gegen die Ukraine – aber eine Entwicklung im eigenen Land: das Erwachen einer neuen jungen Generation. Denn auch die sehe in Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Toleranz grundlegende politische Ideale: "Diese ‘europäischen Werte‘ sind nun einmal universell. Jüngere Generationen haben dies verstanden. Sie gehen überall in dem riesigen Land auf die Straße, um die regierenden Eliten herauszufordern", schreibt Igor Torbakov in der aktuellen Märzausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik.
Und auch nach Ausbruch des Krieges halten die Proteste an - jetzt gegen den Krieg in der Ukraine. Polizei und Justiz gehen mit Härte gegen die Protestierenden vor. Auch Grundschulkinder wurden festgenommen, weil sie Plakate gegen den Krieg hochhielten. Amnesty International zählt in der ersten Kriegswoche fast 6000 Verhaftungen und kritisiert zunehmende Zensur in Russland.
Im September 2001 hatte der junge Hoffnungsträger Wladimir Putin im Bundestag noch ein Versprechen abgegeben: "Das Hauptziel der Innenpolitik Russlands ist vor allem die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit." Zwanzig Jahre später führt er einen Angriffskrieg gegen seinen europäischen Nachbarn.