Nobelpreis für Quantenphysiker
9. Oktober 2012"Sie haben bahnbrechende Methoden entwickelt, Quantenzustände zu messen und zu beeinflussen", begründete das Nobelpreiskomitee in Stockholm seine Entscheidung für den diesjährigen Physik-Nobelpreis. Die so Geehrten sind der 68-jährige Franzose Serge Haroche vom Pariser Collège de France sowie der ebenfalls 68-jährige US-Amerikaner David Wineland vom National Institute of Standards and Technology in Boulder, Colorado.
Unabhängig voneinander erforschten sie die Welt der Quantenphysik. Als "echte Pioniere" bezeichnet Ludwig Mathey, Professor für theoretische Physik an der Universität Hamburg, die beiden Preisträger: "Sie haben in beeindruckendem Maße die Gebiete, auf denen sie arbeiten, vorangeschoben und Fragen gestellt, die wirklich sehr fundamental und interessant sind."
Hier oder dort - oder beides zugleich
Es ist eine verwirrende und schier unbegreifliche Welt, mit der sich die beiden Preisträger beschäftigen. Eine Welt, die nicht so funktioniert, wie wir sie kennen. In unserer Welt haben wir es mit sehr großen Ansammlungen von Atomen zu tun, zum Beispiel mit Autos und Stühlen. Und diese großen Atom-Ansammlungen funktionieren nach den klassischen physikalischen Gesetzen: Autos sind beispielsweise entweder rot oder blau, aber nicht beides zugleich. Stühle stehen entweder in der Küche oder im Wohnzimmer - aber niemals an beiden Orten gleichzeitig.
Schaut man jedoch in die Welt der kleinsten Partikel, aus denen die Atome bestehen, dann wird es chaotisch: Ein Teilchen kann plötzlich zwei sogenannte Quantenzustände gleichzeitig annehmen, also beispielsweise an zwei Orten zugleich sein oder gleichzeitig rot und blau - wenn es denn in dieser kleinen Welt Farben gäbe.
Diese Quantenzustände waren lange Zeit - selbst für Physiker - nicht zu messen. Denn sobald man die Eigenschaften der Teilchen misst, verändert man sie. Das ist wie bei einer Kugel auf einem Billardtisch in einem komplett dunklen Zimmer. Indem man die Kugel, die jemand angestoßen hat, anfasst, um zu ertasten, wo sie gerade ist, verändert man ihren Zustand - man bremst sie ab.
Die beiden Preisträger haben es möglich gemacht, solche Quantenzustände dennoch zu bestimmen. Sie entwickelten sozusagen Taschenlampen, mit der man einen Teil des Billardtischs anleuchten kann, um zumindest zu sehen, ob die Kugel beispielsweise gerade auf der rechten oder auf der linken Seite des Tischs liegt.
Die Geburt der Navigationsgeräte
Die Erforschung der Quantenphysik klingt wie reine Grundlagenforschung, aber das ist sie keinesfalls - auch nicht die Forschung der beiden Preisträger. "Eine der Motivationen ist die Verbesserung von Atomuhren", erklärt Mathey. Atomuhren messen die Zeit auf Basis des Lichts, das Atome ausstrahlen, wenn sie schwingen.
"David Wineland hat mit seinen Beiträgen die Genauigkeit von Atomuhren um viele Größenordnungen verbessert", erklärt Mathey. Das habe das Global Positioning System (GPS) erst möglich gemacht, mit dem das Navigationsgerät im Auto bestimmt, wo sich das Auto gerade befindet.
Dabei senden GPS-Satelliten Signale aus, die unter anderem die Information erhalten, wo sich der Satellit befindet und wann das Signal abgesendet wurde. Das Navigationsgerät empfängt gleichzeitig Signale von mehreren Satelliten. Aus der Zeit, die die Signale für ihre Strecke vom Satellit zum Navi benötigen, lässt sich die Position des Autos bestimmen. Eine präzise Zeitmessung ist für das GPS somit extrem wichtig.
"Als David Wineland ein junger Mann war, wäre die Genauigkeit eines GPS viele Kilometer gewesen", sagt Mathey. Diese Technik wäre damit - zumindest für den Autoverkehr - nutzlos. Jetzt, mit den Verbesserungen, die David Winelands Forschungsergebnisse in der Zeitmessung bewirkt haben, lässt sich die Position eines Objektes zentimetergenau bestimmen. "Jedes Mal, wenn wir ein GPS einschalten, nutzen wir die Eigenschaften von Atomuhren. Es ist also eine tagtägliche Anwendung, die durch diesen Fortschritt erzielt wurde."
Noch schnellere Computer
Die Quantenphysik birgt aber noch weitere Anwendungen: "Es gibt die Idee, dass man mit Hilfe der Quantenmechanik leistungsfähigere Computer bauen kann", sagt Physiker Ludwig Mathey. Diese Idee entstand in den 80er Jahren. Der sogenannte Quantencomputer soll auf der Basis quantenmechanischer Zustände basieren und dadurch mehr Informationen verarbeiten können als die derzeitigen Rechner.
Noch existiert ein solcher Computer nur in der Theorie. "Es gibt aber eine Reihe möglicher Systeme, wie so ein solcher Quantencomputer funktionieren kann", erklärt Mathey, "und diese Systeme werden derzeit alle untersucht." Zwei Modelle stammen von Wineland beziehungsweise von Haroche und sind, so Mathey, "im Moment die realistischsten Kandidaten für einen solchen Quantencomputer."
Der ominöse Quantencomputer, so heißt es, könnte unser tägliches Leben so verändern, wie im vergangenen Jahrhundert die derzeitigen Rechner. Gelänge das mit einem der beiden Methoden, die Haroche und Wineland entwickelt haben, wäre ihnen möglicherweise sogar noch ein zweiter Nobelpreis sicher.