Radsportfest im Land der "Gläubigen"
27. September 2021Man glaubte sich in eine Zeitmaschine versetzt: Menschen, dicht gestaffelt hintereinander, standen, links und rechts der Rennstrecke der Rad-WM. Sie klatschten mit ihren flachen Händen auf die Barrieren, so dass Fahrerinnen und Fahrern vor Aufregung Gänsehaut bekamen. "Die Fans waren großartig hier in Flandern. Wie sie mich angefeuert haben bei meinen letzten Rennen, war einfach fantastisch", meinte etwa Tony Martin. Der 36-Jährige beendete seine lange Karriere bei dieser WM. Er krönte sie mit dem WM-Titel in der Mixed Staffel. Neben diesem Erfolg stimmte Martin aber auch die ganze Atmosphäre glücklich.
Schon der Nebenevent war ein Ereignis
Denn Flanderns Fans sorgten für eine bemerkenswerte WM. "Das Zeitfahren ist eigentlich ein Nebenevent. Aber der Zuspruch der Zuschauer machte schon das zu einem Ereignis", konstatierte Tomas van den Spiegel befriedigt. Der frühere Basketballprofi ist im Hauptberuf Organisator des Radklassikers Flandernrundfahrt. Er gehört jetzt auch zum lokalen WM-Organisationskomitee. Für das Straßenrennen am Sonntag prognostizierte er eine Million Zuschauer.
Doch dem Augenschein nach wurde das sogar noch übertroffen. Bereits am frühen Sonntagmorgen zogen Menschengruppen, bestückt mit vielen Flaschen Bier, an den Rennkurs. Die gelben Fahnen mit dem flämischen Löwen wehten, als gelte es, ein Staatsoberhaupt zu empfangen. Auch die Oranje-Farben vom Nachbarland Niederlande waren gut vertreten. Für Rennorganisator van den Spiegel stellt die WM mit dem enormen Besucherzustrom "einen Neustart für die gesamte Region in der schweren Zeit der Pandemie" dar, meinte er gegenüber der DW.
Der Zuschuss der öffentlichen Hand von etwa 16 Millionen Euro zum Gesamtbudget von 21,3 Millionen zahlte sich offenbar aus. Die Hotels in den WM-Städten Brügge und Löwen waren ausgebucht. Gastwirte machten Umsätze wie vor der Pandemie. Menschen waren beglückt auf den Straßen. Kurz vor der WM war sogar die Maskenpflicht im Freien aufgehoben worden. "Hier in Flandern gerät für ein paar Tage die Pandemie in Vergessenheit", konstatierte Nils Politt, Kapitän der deutschen Abordnung im Straßenrennen am Sonntag.
Solosieg des Titelverteidigers
Politt sorgte selbst für Stimmung. Eine Attacke von ihm etwa 90 Kilometer vor dem Ziel legte die Grundlage für jene Gruppe, zu der später eine ganze Reihe Favoriten aufschließen konnten. Unter ihnen war auch WM-Titelverteidiger Julian Alaphilippe. Der Franzose entkam 20 Kilometer vor dem Ziel all seinen Begleitern und eilte einem souveränen Solosieg entgegen. "Letztes Jahr war schon traumhaft für mich. Jetzt bin ich aber überwältigt", sagte er im Ziel. Er beklagte sich dort allerdings auch über einige belgische Zuschauer. Die waren offenbar enttäuscht über das schlechte Abschneiden der einheimischen Helden. Lediglich Platz vier für Jasper Stuyven sprang heraus. Top-Favorit Wout van Aert wurde Elfter. "Sie haben mich aufgefordert, langsamer zu fahren. Sie benutzten keine schönen Worte. Aber das hat mich nur zusätzlich motiviert", erzählte Alaphilippe.
Die unfeinen Worte an die Adresse des alten und neuen Titelträgers waren der einzige Schönheitsfehler einer ansonsten sehr geglückten und auch perfekt geplanten Veranstaltung im Herzland des Radsports. "Wir haben schon in den letzten zwei Jahren bewiesen, dass wir selbst in Pandemiezeiten Rennen organisieren können. Zwei Mal haben wir die Flandernrundfahrt ohne Publikum durchgeführt. Das war nicht nur für die Rundfahrt selbst wichtig. Es war auch in den Augen der Behörden ein Probelauf für die WM", meinte van den Spiegel.
Radsport ist Religion in Flandern
Die WM fand sogar mit Zuschauern statt. Der besondere Stellenwert des Radsport in Flandern half dabei. Denn auch Bürgermeister und Chefs von Gesundheitsämtern sind Radsportfans. "Radsport hat in Flandern fast den Status einer Religion. Jeder wächst mit dem Rad auf, jeder will Radsportler werden, selbst wenn der eigene Körper nicht dafür geeignet ist", sagt van den Spiegel lachend und verweis auf seinen Körper von 2,14 Metern Größe.
Tatsächlich sieht man über das Kopfsteinpflaster die Innenstädte Flanderns schon Sechsjährige mit ihren Gefährten rattern. Wer jünger ist, erspürt das Rütteln im Fahrradanhänger, in dem ihn die Eltern übers Pflaster ziehen. Pensionäre bringen ihre Einkäufe per Rad nach Hause. 16 Prozent aller Wege werden in Flandern per Rad zurück gelegt, sagt die Statistik. Das Netz der Radwege ist gut ausgebaut, die enorm dimensionierten Fahrradgaragen an Bahnhöfen werden eifrig genutzt.
Beleg für die besondere Beziehung zwischen Flandern und dem Radsport ist auch die regelmäßig verliehene Auszeichnung des härtesten und Entbehrungen am besten wegsteckenden Radprofis als "Flame des Jahres". Kerle wie Tom Boonen und Peter Sagan, aber auch Chris Froome und Julian Alaphilippe wurden bereits zu Ehrenflamen erklärten. Seit 2008 gibt es auch die Wahl zur "Flämin des Jahres". Aktuelle Titelträgerin ist die Belgierin Lotte Kopecky, die im WM-Rennen aber als 16. - und damit beste Einheimische - enttäuschte.
Oberflame van den Spiegel hatte aber bereits ein Rezept für den Fall des sportlichen Misserfolgs der Heimnation parat: "Das ist nicht das Ende der Welt. Dann trinken wir einfach noch ein bisschen mehr", meinte er zu DW. Damit hatten viele seiner Landsleute schon vor Beginn des Rennens angefangen. So sorgten sie für Freude bei Gastwirten und Brauereien. In den kommenden Tagen sollte man allerdings auf die Infektionskurve in Flandern blicken. Erst dann lässt sich sagen, ob der Relaunch der Region durch das Sportevent mit einer Million Zuschauern tatsächlich geglückt ist