Radikalisierungsort Gefängnis
14. Januar 2015Die Faktenlage ist eindeutig: Zwei der drei Attentäter von Paris haben wesentliche Phasen ihrer islamistischen Radikalisierung im Gefängnis durchlaufen. Das gleiche gilt für Mehdi Nemmouche, der im Frühjahr 2014 im jüdischen Museum in Brüssel vier Menschen erschoss. Auch der Weg von Mohammed Merah führte durch französische Gefängnisse, bevor er 2012 sieben Menschen in Toulouse und Montauban tötete.
Im vergangenen Dezember wurde in Frankfurt der erste Syrien-Rückkehrer zu knapp vier Jahren Jugendstrafe verurteilt, wegen Mitgliedschaft in der Terrormiliz "Islamischer Staat". Vom radikalen Islamismus distanziert hatte sich Kreshnik B. vor Gericht nicht. Angesichts von rund 600 Deutschen, die sich dem sogenannten "Islamischen Staat" angeschlossen haben, werden künftig vermutlich weitere radikale Islamisten in deutschen Gefängnissen einsitzen – zusätzlich zu mutmaßlichen oder bereits verurteilten islamistischen Terroristen: etwa die "Sauerland-Gruppe", die Kofferbomber von Köln, die Attentäter vom Bahnhof in Bonn oder der Todesschütze vom Frankfurter Flughafen 2011, Arid Uka.
Damit stellt sich die Frage, wie verhindert werden kann, dass Gefängnisse zu Orten der Radikalisierung werden. Das unterstreicht auch Raffaello Pantucci, Direktor für Internationale Sicherheitsstudien beim Royal United Services Institut in London. "Wir haben das schon häufig gesehen: Individuen gehen ins Gefängnis und radikalisieren dort andere."
Parallelen zum Rechtsextremismus
Der Mechanismus ist nicht neu. Auch Berufskriminelle bauten in Gefängnissen ihre Netzwerke aus, erklärt Joachim Kersten, Forschungsprofessor an der Hochschule der Polizei in Münster. Kriminologe Kersten verweist im DW-Gespräch auf Parallelen zum Rechtsextremismus. "Das konnte man in den neuen Bundesländern nach der Wende beobachten, dass sich dort in den Gefängnissen Zellen bildeten, die solches Gedankengut dann vertieft haben."
Dazu kommt: Die salafistische Szene organisiert Unterstützung für die Gefangenen. Zum Beispiel über das eigens für die Gefangenenhilfe in der dschihadistischen Szene eingerichtete Onlineportal "Ansarul Aseer". Von immerhin rund 3500 Facebook-Usern "geliked", wird da zum Briefeschreiben an die Gefangenen und zum Spenden aufgerufen oder es wird generell Propaganda betrieben: Den Behörden wird Willkür vorgeworfen oder die schlechte Behandlung von Glaubensbrüdern. Einzelne Aktivisten betreiben gezielte Gefangenenarbeit, zum Beispiel der zum Islam konvertierte ehemalige Linksterrorist Bernhard Falk. Solche Aktivisten halten Kontakt zu ihren "Brüdern" in den Gefängnissen. Sie sorgen dafür, dass sie nicht vom Glauben abfallen und unterstützen Versuche, Mitgefangene zu radikalisieren. Falk etwa taucht regelmäßig bei Prozessen gegen Islamisten auf, besucht Gefangene in der Haft und sammelt Spenden, auch für die Angehörigen von Gefangenen.
Gescheiterte Lebenswege treffen einfache Erklärungen
Das Problem: Gerade in den Gefängnissen treffen hoch ideologisierte Dschihadisten auf eine anfällige Klientel. Das gilt besonders für Jugendstrafanstalten, betont der Pädagoge und Politologe Thomas Mücke. Der Mitbegründer und Geschäftsführer des "Violence Prevention Network" erläutert im DW-Interview, die jungen Leute seinen ja gerade inhaftiert, weil ihre bisherigen Lebenswege gescheitert seien. "Dann sind sie auch anfällig für einfache Erklärungsansätze: Du bist inhaftiert, weil du in dieser Gesellschaft nicht akzeptiert wirst, weil Muslime auf der ganzen Welt verfolgt werden." Mücke ist aufgefallen, dass viele radikalisierte Dschihadisten in ihrem Lebenslauf mit dem kriminellen Milieu Kontakt hatten. "Da sind nicht wenige, die mit Gewalt-, Eigentums- und Drogendelikten aufgefallen sind." Deswegen fordert Mücke präventive Angebote in den Gefängnissen. Weil viele der Jugendlichen, die sich der salafistischen Szene anschließen, ungebildet seien und ihre eigenen religiösen Wurzeln nicht wirklich kennen, zählt Mücke zu den Präventionsmaßnahmen auch die Arbeit von islamischen Geistlichen in den Gefängnissen. Junge Strafgefangene sollten nicht von Extremisten zum ersten Mal hören, was angeblich der Islam ist.
Einer geht rein, sechs kommen raus
Das ist auch die Sorge von Husamuddin Meyer. Seit sechs Jahren arbeitet der Konvertit in der islamischen Gefangenenseelsorge. Meyers Fazit: "Wenn ein ideologischer Mensch auf andere trifft, die voller Hass und Wut sind, dann hat der schnell eine Art von Gefolgschaft. Wenn einer herein geht, dann kommen sehr schnell sechs oder sieben heraus." Der mit eindrucksvollem Bart und Turban auftretende Meyer bezeichnet deshalb "ideologische Gegenarbeit" als wesentlichen Teil seiner Arbeit. Als muslimischer Geistlicher genießt Meyer Vertrauen bei den Strafgefangenen – und sein Wort hat Gewicht. Etwa, wenn er über den sogenannten "Islamischen Staat" redet und erklärt, dass der mit dem Islam nichts zu tun hat. Den Medien traut seine Klientel nicht.
Dennoch gehe von der dschihadistischen Ideologie ein gefährlicher Sog aus, erklärt Meyer: "Da kann man schnell von der untersten Stufe der Gesellschaft aufsteigen zu einem Helden, zu einem der von 80.000 Polizisten verfolgt und von Kameras gefilmt wird." Meyer erinnert sich noch daran, wie nach den Schüssen von Toulouse 2012 Gefangene sagten, Mohamed Merah habe es richtig gemacht und Heldenstatus erreicht. Das hat wohl auch der Attentäter vom jüdischen Museum in Brüssel gedacht. Im Gefängnis hatte Mehdi Nemmouche den Showdown in Toulouse Minute für Minute am Fernseher erfolgt.