Raila Odinga: "Westgate lässt viele Fragen offen"
21. September 2014DW: Herr Odinga, wie schätzen Sie als Oppositionsführer das politische Klima in Kenia ein?
Raila Odinga: Unser Land ist politisch stabil - wenn man von zwei Themen absieht: der Frage nach einem Verfassungsreferendum und der Sicherheitslage. Die ist besonders schlecht, weil die Al-Shabaab-Miliz und der internationale Terrorismus eine Bedrohung darstellen. Auch wirtschaftlich sind wir in einer schwierigen Situation mit hoher Inflation und hohen Lebenshaltungskosten für Kenianer. Aber im Großen und Ganzen empfinde ich Kenia als stabil.
Zum Stichwort Sicherheit: Mitglieder der islamistischen Al-Shabaab-Miliz überfielen vor einem Jahr das Westgate-Einkaufszentrum. Videos zeigten deutlich, wie Sicherheitskräfte anschließend die im Stich gelassenen Läden ausplünderten. Bis heute wurden keine Konsequenzen gezogen. Was ist Ihre Meinung dazu?
Es ist sehr unglücklich, dass die Kenianer bis heute nicht wissen, wer für den Angriff verantwortlich ist. Die Bedrohung brachte uns damals alle zusammen. Regierung und Opposition zogen an einem Strang. Wir drängten auf Ermittlungen, die uns der Präsident zusagte. Leider widerrief er später seine Entscheidung und weigerte sich, eine juristische Untersuchungskommission einzusetzen. So bleiben viele grundlegende Fragen offen: Wer waren die Täter? Wie verlief die Planung?
Seit Oktober 2011 kämpfen kenianische Truppen im Nachbarland Somalia gegen Al-Shabaab. 2012 schlossen sie sich der afrikanischen Militärmission in Somalia AMISOM an. Sie fordern nun, dass Kenia seine Soldaten aus Somalia abzieht. Wie soll es weitergehen?
Wir wollen nicht einfach den Rückzug aus Somalia. Wir sind aber der Ansicht, dass wir einen klaren Zeitplan für unseren Einsatz dort brauchen. In den letzten Jahren hat Kenia in Somalia gute Arbeit geleistet. Aber laut den Richtlinien der Afrikanischen Union sollten Nachbarländer sich grundsätzlich nicht an Militäreinsätzen beteiligen, weil die Gefahr von Vergeltungsschlägen besteht. Darum schickte Kenia seine Truppen erst, nachdem sich die Übergriffe von Al-Shabaab in Kenia gehäuft hatten. Die Operation zielte auf den Schutz unseres Landes - das besagt ihr Name "Linda Nchi" - und sollte zeitlich begrenzt sein. Wir wollten die Somalier in die Lage versetzen, ihr Land selbst zu schützen, und uns dann zurückziehen - so wie das die Amerikaner im Irak und in Afghanistan getan haben. Das ist es, was die meisten Menschen fordern: einen klaren Zeitplan, mehr Transparenz und Offenheit vonseiten der Regierung, und Rechenschaft gegenüber den Soldaten, die in Somalia ums Leben kommen.
Sie fordern ein Referendum, um Teile der Verfassung zu ändern. Dafür haben Sie bereits mehr als eine Million Unterschriften gesammelt. Was wollen Sie denn verändern? Und warum halten Sie es für nötig, eine vier Jahre alte Verfassung zu ändern - an deren Entstehung Sie einen entscheidenden Anteil hatten?
Die US-amerikanische Verfassung wurde innerhalb von sechs Monaten geändert. Ähnliches gilt für die Verfassung Frankreichs. Die Frage kann also nicht sein, wie lange unsere Verfassung schon in Kraft ist. Die Frage muss lauten: Gibt es Schwächen in der Verfassung? Die Antwort: Ja, es gibt sie. Besonders das Kapitel zur Dezentralisierung weist Lücken auf. Wir wollen eine klare Formel, wie Einnahmen zwischen der zentralen und den lokalen Regierungen aufgeteilt werden. Bisher ist von mindestens 15 Prozent für die Bezirke die Rede, wir fordern aber, dass 40 bis 45 Prozent in den Bezirken bleiben. Auch die Verteilung der Bodenschätze muss in diesem Zusammenhang geklärt werden. Außerdem fordern wir die Stärkung der Landverteilungskommission, um Eigentumsrechte besser zu schützen.
Kritiker werfen Ihnen vor, das Referendum als Mittel zu benutzen, um durch die Hintertür an die Macht zu kommen, nachdem Sie bei den Präsidentschaftswahlen vergangenes Jahr eine Niederlage gegen den jetzigen Präsidenten Uhuru Kenyatta und seinen Stellvertreter William Ruto einstecken mussten.
Diese Vorwürfe sind Unfug. Wir brauchen kein Referendum, um an die Macht zu kommen. Wir haben das Ergebnis der Wahlen vor dem Obersten Gericht angefochten. Das Gericht hat unseren Einspruch verworfen, unsere 900-seitige Beweisführung überzeugte es nicht. Wie Sie wissen, halten wir dieses Urteil für falsch, aber wir respektieren es. Die Wahlen von 2013 sind gelaufen, wir haben das abgehakt. Trotzdem können wir Fehler, die wir in der Verfassung sehen, korrigieren, damit die Kenianer bei der nächsten Abstimmung nicht ein ähnliches Schicksal erwartet.
Kenia erlebte schon einmal bürgerkriegsähnliche Zustände, nachdem die Wahlkommission Ihre knappe Niederlage bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen vom Dezember 2007 verkündete. Auch danach hat es immer wieder Spannungen gegeben. Haben Sie keine Angst, dass dieses Referendum erneut Gewalt provozieren könnte?
Das halte ich für unwahrscheinlich. Die Kenianer sind sehr vernünftig. Sie können verschiedener Meinung sein, ohne das gewaltsam auszutragen. Außerdem ist ein Referendum ja nichts ungewöhnlich. In Europa gibt es das alle Tage: jetzt gerade in Schottland und in der Schweiz immer wieder. Großbritannien wird demnächst in einem Referendum über seine Mitgliedschaft in der Europäischen Union entscheiden. Warum sollte in Kenia ein Referendum zu Ausschreitungen führen? Ich finde, es ist an der Zeit, dass das kenianische Volk ein Mitspracherecht in wichtigen Entscheidungen bekommt.
Im Zusammenhang mit den Wahlunruhen von 2007 erwartet ihren politischen Gegenspieler, Präsident Uhuru Kenyatta, ein Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Der Prozessbeginn ist mehrfach verschoben worden, zuletzt auf den 7. Oktober. Es könnte sein, dass das Gericht das Verfahren aus Mangel an Beweisen einstellen muss. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Natürlich sind Beweise die Grundlage für ein Verfahren. Ohne ausreichende Beweise kann es kein Verfahren geben. Es ist nicht zulässig, Menschen strafrechtlich zu verfolgen, wenn die Beweislage das nicht zulässt. Das ist unsere Position. Ich denke, dem gibt es nichts hinzuzufügen.
Raila Odinga ist Führer des Oppositionsbündnisses "Koalition für Demokratie und Entwicklung". In der Präsidentschaftswahl vom März 2013 unterlag er knapp Uhuru Kenyatta. Das Oberste Gericht wies seine Anfechtung wegen vermeintlichen Unregelmäßigkeiten zurück. Schon im Dezember 2007 hatte er in umstrittenen Wahlen knapp gegen Präsident Mwai Kibaki verloren. Nach den darauffolgenden Unruhen mit mindestens 1200 Toten erreichten Vermittler eine politische Einigung, in deren Folge Odinga zum Premierminister ernannt wurde.
Das Interview führte Andrea Schmidt.