Rammstein: Sind das Klassiker?
6. August 2019"Das ist Kunst!", meinte der deutsche Komponist Torsten Rasch über die Musik von Rammstein. Rasch bearbeitete einige Songs der Band und machte einen Liederzyklus für Solostimme und Sinfonieorchester daraus, der 2004 auf CD unter dem Titel Mein Herz brennt erschien.
Das Ergebnis war kein Crossover-Projekt, das sich auf einem geringen gemeinsamen Nenner bewegt: In der freien Bearbeitung der Lieder ist die Ähnlichkeit zum Original nicht immer offen hörbar. Rasch ließ sich vor allem von den Liedtexten inspirieren und gab ihnen ein stilistisches Gewand, das eher wie zeitgenössische ernste Musik anmutet und auf die Stimme des renommierten Opernsängers René Pape zugeschnitten war.
Eine Adaption eines Rammstein-Liedes, das etwas "klassischer" klingt, war "Seemann", 2003 von Nina Hagen und der Gruppe Apolyptica gecovert. Im folgenden Jahr nahm die Band Gregorian das Lied "Engel" auf und würzte es mit Männergesang im Stil der Gregorianik.
Auf eine Affinität zur "klassischen" Kultur im weiteren Sinne deuten Rammstein-Leadsänger Till Lindemanns Interesse an der Lyrik Bertolt Brechts und ein Buch mit eigenen Gedichten, das 2013 unter dem Namen In stillen Nächten erschien.
Klassische Stilelemente und Anspielungen
Hinweise auf die Nähe der Band zur klassischen Musik gibt es viele. Auf der aktuellen Europa-Stadion-Tournee wird das Publikum eingeheizt durch ein Klavierduo namens Jatekok mit den französischen Pianistinnen Adélaïde Panaget und Naïri Bandal: Sie spielen Lieder aus Rammsteins Best Of-Album Klavier. Zusammen mit den Tonträgern erschien 2015 ein 80-seitiges, gebundenes Notenheft, aus dem Fans die Lieder auf dem heimischen Klavier wiedergeben können. Eine Anerkennung einer alten Tradition, denn vor der Erfindung des Grammophons dienten Klavierauszüge als Mittel zur Massenverbreitung von Musik. Der klare Aufbau der Lieder und ihre einprägsamen Melodien machen sie für diese Erscheinungsform geeigneter als die Musik irgendeiner anderen Rockband, die in den Sinn kommt.
Als nette Anspielung auf die Pyrotechnik, die man bei einer Rammstein-Show erwarten darf, erklingt Georg Friedrich Händels Feuerwerksmusik zwischen der Jatekok-Einlage und dem lauten Knall, der den Auftritt von Rammstein selbst einläutet.
Rammstein und die Klassik: Es geht aber um mehr als Bearbeitungen, Anspielungen und Vorbands. Auch stilistische Merkmale: Das aktuelle Lied Deutschlandendet mit einem langen, melancholischen Klaviersolo. Streicherklänge bestimmen den Track Mein Herz brennt , und bei Zeig dich erklingt üppiger Chorgesang.
Im Grunde klassisch
Während der 27-Städte-Tournee berichten die Medien beinahe täglich. Es kommen noch die Shows in Riga und Tampere, von dort aus geht es nach Stockholm und Oslo, dann zum Abschluss in Wien am 22. August. In den Berichten ging es einmal um eine Auseinandersetzung zwischen Lindemann und einem Fan mit Anwendung körperlicher Gewalt. Weitere Themen waren die Verdrahtung des Kiefers des Frontmanns, um Licht aus seinem Mund strahlen zu lassen – oder auch zuletzt der gleichgeschlechtliche Kuss, der Rammsteins Auftritte in Russland skandalisierte: In dem Land ist "homosexuelle Propaganda" nämlich strafbar.
Oft genügen jedoch kleine Unterschiede in der Darbietung einzelner Lieder, um Musikjournalisten auf den Plan zu rufen, die sie dann deuten. Das kann es nur geben, weil die Songs und die Showeinlagen so bekannt und ausgereift sind, dass sie als Referenz dienen. Weit entfernt vom spontanen, chaotisch anmutenden Jam-Session-Charakter, der Rock- und Metal-Konzerte oft kennzeichnet, arbeiten die Rammstein-Bandmitglieder im selbst entwickelten Bezugsrahmen ihrer durchkomponierten Lieder und präzise inszenierten Auftritten. Das kann man durchaus "klassisch" nennen.
Zwischen "klassisch" und "Klassik" ist ein Unterschied: Natürlich klingt Rammstein nicht auch nur entfernt ähnlich wie der Nussknacker von Tschaikowsky oder Eine kleine Nachtmusik von Mozart. Wie sind sie denn dann klassisch? Ein Blick ins Wörterbuch hilft weiter. Zu den vielen Definitionen des Wortes im Duden gehört diese: "(in Bezug auf Aussehen oder Formen) in (althergebrachter) mustergültiger Weise (aufgeführt), vollendet, zeitlos".
Künstlerischer Ausdruck auf verschiedenen Ebenen
Es geht also auch um Formvollendung. Vollendet ist auch der unverwechselbar eigene Klang von epischer Breite – der, gelinde gesagt, oft nicht ganz nett klingt. 2001 schrieb ein Kritiker der Zeitschrift Jam Showbiz über den Song Mutter, dies sei "Musik, zu der man Polen überfallen könnte". Die "dröhnende, unterschwellige Stimme" von Till Lindemann beschrieb die Southland Times aus Neuseeland als etwas, was "die Bauer in ihre Scheunen jagt und sie dazu bringt, ihre Tore zu verriegeln".
Die Jungs von Rammstein haben ihren Stil gefunden — und erhalten. Ihr Motto: "Mach dein Ding und übertreibe es!" erklärte es einmal der Schlagzeuger Christoph Schneider.
Woher kommt aber der Stil? Zu den verschiedenen Einflüssen gehören Nina Hagen, Depeche Mode und die slowenische Band Laibach. Zu ihren Stilelementen gehören Industrial Rock, Heavy Metal, Grunge und Elektronik; ferner: Punk, Rock, Pop und Gothic.
Aber den wohl entscheidenden Faktor erklärt Keyboarder Christian "Flake" Lorenz nachvollziehbar so: "Den Stil haben wir gefunden, indem wir alle genau wussten, was wir nicht wollen. Wir haben gemerkt, dass wir nur diese Musik können, die wir auch spielen. Und die ist halt mal sehr einfach, stumpf, monoton."
Man könnte hinzufügen: auch tiefschürfend, aufrüttelnd, bisweilen aber auch zart-melancholisch. Wenn man einen klassischen Komponisten nennen würde, der einen ähnlich kompromisslosen Angriff auf den seelischen Haushalt ausübt, dann hieße er Richard Wagner.
Hier ein Stück Musiktheorie, ganz einfach erklärt: Dur-Tonarten klingen meist fröhlich, Moll dafür traurig. Dass fast alle Lieder Rammsteins in Moll-Tonarten sind, ist nicht besonders bemerkenswert: Das gilt offenbar für die meisten Popsongs heute. Aber wäre es möglich, die abgründige Traurigkeit im Lied Engel einmal zu übertreffen, in welchem Genre auch immer?
Du hast — oder du hasst?
Die Auftritte von Rammstein haben mehr mit einer Operninszenierung gemeinsam als mit einem durchschnittlichen Rockkonzert. Auch Gags, die man seit Jahren kennt — wie beispielsweise das Einkochen von "Flake" Lorenz in einem großen Suppentopf beim Kannibalismus-Lied — werden detailbeflissen geschauspielert und wirken immer wieder neu.
Natürlich gibt es auch jene andere Seite von Rammstein: In ihren Texten suchen Verschwörungstheoretiker stetig nach Geheimwissen, und die Band bleibt auch in der rechten Ecke beliebt – auch wenn sie sich nicht dort einzuordnen ist. Unbehagen bereitet zeitgenössischen Deutschen die Verwendung von Filmsequenzen mit Anklängen an das Werk von Leni Riefenstahl, der Filmpropagandistin Adolf Hitlers – oder die scheinbare Glorifizierung von Macho-Gehabe, oder einfach Lindemanns rollendes "R", das an die Zeit des Dritten Reichs erinnert und das, verdienterweise oder nicht, zur Wahrnehmung der Gruppe als sehr "deutsch" im Ausland beiträgt.
Neulich erzählte mir ein Kollege von einer Reise nach Kanada. Als er Menschen erklärte, wo er herkam, sagte jemand, "Ahh, Germany! Rammstein!" Er wurde dann gefragt, was der Songtitel "Du hast" bedeutet – in der Annahme, dass es wohl etwas Furchtbares wäre. Der Kanadier war fast enttäuscht zu erfahren, dass der Titel harmlos wirkt, und dass es im Lied um einen Heiratsantrag geht. Er klingt aber auch wie "Du hasst" – und auf für Rammstein typisch mehrdeutige Weise, hat die Band einmal den Titel bei einer englischen Übersetzung als "You Hate" übersetzt.
Das Publikum im Sinn
Ob es unter den Zigtausenden, die Rammstein zusammen mit Jatekok jetzt gehört haben, viele gibt, die sich anschließend für Klavierduos interessieren, ist unbekannt.
Wenn es aber um die musikalische Gesamtwirkung der Band geht, kommt ein Brief in den Sinn, den Wolfgang Amadeus Mozart an seinen Vater schrieb. Er legt den Blick in die Komponistenwerkstatt frei und zeigt, dass dieser Schaffende der hohen Kunst durchaus seine Hörer ins Kalkül miteinbezogen hat. Über die Klavierkonzerte, an denen Amadeus gerade arbeitete, schrieb er: "Die Concerten sind eben das Mittelding zwischen zu schwer und zu leicht … hie und da – können auch Kenner allein satisfaction erhalten – doch so – daß die Nichtkenner damit zufrieden sein müssen, ohne zu wissen warum."
So auch ein Rammstein-Song. Er ist zugänglich, und man kann ihm beim ersten Hören viel abgewinnen. Hört man sich ihn aber später nochmal an, merkt man, dass er auf verschiedenen Ebenen rezipiert werden kann. Auch das ist "Klassik".