Rassismus als "bedauerliche Normalität"
9. Februar 2013Den ultimativen Weckruf löste Kevin Prince Boateng Anfang Januar aus. Nach unzähligen Beleidigungen bei einem Freundschaftsspiel seines Clubs AC Mailand beim Viertligisten Pro Patria verließ der Deutsch-Ghanaer wütend den Platz. Das Spiel wurde abgebrochen - und Italien sich eines lange Zeit verdrängten Problems bewusst. "Bis vor einigen Jahren hat der Verband gesagt, dass es keinen Rassismus gebe, nur einzelne Episoden. Ich aber habe protestiert und gesagt, das Problem sei stärker verbreitet", erzählt der Soziologe Mauro Valeri.
Zahl der rassistischen Zwischenfälle relativ konstant
Seit 13 Jahren wertet Valeri die Urteile des Disziplinarausschusses des Verbandes sowie Presseveröffentlichungen aus und erstellt so eine Statistik rassistischer Vorfälle im Stadion. Sie zeigt ein relativ konstantes Nivau. 62 dokumentierten Fällen in der Saison 2000/2001 stehen 59 in der letzten Spielzeit gegenüber. Die Zahlen gelten für die drei obersten Ligen des italienischen Fußballs. Sie zeigen freilich nur die Spitze des Eisbergs. Denn viele Vorfälle gelangen gar nicht zur Anzeige.
Nur gekommen, um zu beleidigen
Das weiß auch Damiano Tommasi, Präsident der Spielergewerkschaft AIC. Rassistische Diskriminierungen von Kollegen hat der langjährige Profi des AS Rom so oft erlebt, dass er sie als "bedauerliche Normalität" bezeichnet. Doch auch ihn hat der Zwischenfall um Boateng verblüfft: "Mich hat überrascht, dass hier Leute zu einem Freundschaftsspiel in der Winterpause zwischen einer großen Mannschaft wie dem AC Mailand und einer kleinen wie Pro Patria, also zu einem Fest des Fußballs gekommen sind, um die Spieler auf dem Platz zu beleidigen. Das hat dann auch die Reaktion von Boateng und den anderen ausgelöst. In einem solchen Spiel die Gegner zu stören, macht doch nicht einmal Sinn." Tommasi will damit Diskriminierungen in Punktspielen nicht entschuldigen. Aber die ungebremst zutage tretenden Hasstiraden gegen die dunkelhäutigen Spieler des AC Mailand gaben auch ihm zu denken.
Rechte Ideologen
Auslöser war ausgeprägte rechte Ideologie. Carlo Balestri, antirassistischer Fanaktivist und Kenner der italienischen Fanszene, meint: "Die Gruppe, die eine hegemoniale Macht im Fanblock von Pro Patria besitzt, hat eine stramme rechte Ideologie, die sie auch schon außerhalb des Stadions gezeigt hat."
Rechtsextremismus fasste in Italiens Stadien bereits in den frühen 1990er Jahren Fuß. "Das begann, bevor die ersten dunkelhäutigen Fußballprofis nach Italien kamen", konstatiert Valeri. Er hat beobachtet, dass diverse Funktionäre von rechtsextremen Gruppen wie Forza Nuova oder Casa Pound ihre "Karriere" im Stadion begannen und mittlerweile sogar in manchen Kommunen das Sagen haben.
Andere Fans bleiben meist still
Der Mobilisierung der Fans für rechte Ideologien sind freilich auch Grenzen gesetzt. "Wenn Gruppen wie Casa Pound oder Forza Nuova ihre Demonstrationen machen, dann ist das ja nicht so, dass sie die ganze Kraft des Stadions hinter sich hätten. Wenn alle Lazio-Fans und Roma-Fans und alle Faschisten zu ihnen gehörten, dann kämen da sicher 10.000 Mann zusammen. Es sind aber nur 300 bis 400", relativiert Fanaktivist Balestri das Phänomen. Doch der Kern der rechtsradikalen Ultras habe durchaus Einfluss: "Es sind in jedem Stadion zwar maximal 100 bis 200 Personen. Aber sie starten die Sprechchöre, in die die anderen Fans einfallen." Balestri, der auch ein antirassistisches Fußballturnier organisiert, beklagt, dass die Fans, die keine Rassisten seinen, so selten ihrer Meinung Ausdruck verliehen.
Lazio Rom unter Beobachtung
Dabei könnten sie damit sogar ihren Vereinen helfen. Darauf macht auch der Soziologe Mauro Valeri aufmerksam: "Es gibt ein Gesetz, nach dem die Strafen für einen Klub reduziert werden, wenn eine Gruppe eine andere, die sich danebenbenimmt, auspfeift. Das nennt sich dann positive Anfeuerung." Wie das geht, demonstrierten im vergangenen November Fans von Lazio Rom während des Europa-League-Spiels gegen Tottenham Hotspur. Sie pfiffen Antisemiten in den eigenen Reihen aus. Unter Beobachtung steht Lazio trotzdem. Die UEFA drohte dem Verein Geisterspiele an, wenn sich beim Spiel gegen Borussia Mönchengladbach am 21. Februar wieder diskriminierende Vorfälle ereignen sollten.
Erziehung zum Antirassismus nötig
Das könnte vielleicht kurzfristig helfen. Um das Problem jedoch von Grund auf zu lösen, fordert Valeri eine intensivere Fanarbeit und eine Erziehung zum Antirassimus in den Fußballvereinen. Diese Botschaft hat mittlerweile auch die Spitze des italienischen Fußballverbands (FIGC) erreicht. "Wenn man die Probleme nur von ihrem Ende her betrachtet, ist es schwer, dagegen vorzugehen", sagt Giancarlo Abete. Der gerade für vier Jahre wiedergewählte Präsident der FIGC verspricht eine "bessere Koordination zwischen dem Spieler, dem Schiedsrichter, dem vierten Offiziellen und dem Verantwortlichen für die öffentliche Sicherheit, eine Ausschöpfung der Sanktionsmöglichkeiten bis hin zu Punktabzügen im Klassement und verstärkte Anstrengungen in Prävention, Ausbildung und Erziehung." Der Weg gegen den Rassismus im italienischen Fußball ist also erkannt. Jetzt muss er auch beschritten werden.