Raus aus den eigenen vier Wänden
24. Juli 2020Mit dem Fest des Pilgerpatrons Jakobus am 25. Juli beginnt die Phase des Hochsommers. Für die meisten Menschen haben diese Wochen mit Ferien, Reisen, Aufbrechen zu tun. Es liegt eine besondere Sehnsucht in der Luft. Das gilt umso mehr für den Sommer 2020. Nach einer für viele Menschen sehr belastenden und verunsichernden ersten Jahreshälfte wächst die innere Sehnsucht nach Weite und nach Aufbruch: Die Menschen wollen einfach raus in die Natur, raus aus den eigenen vier Wänden. Ins Grüne zu gehen – ob in der eigenen Umgebung oder in anderen Regionen –, erlebt gerade einen beispiellosen Boom. Die sommerliche Sehnsucht drückt im Grunde eine Grundbestimmung des Menschen aus: Wir sind Reisende in diesem Leben. Daher mag ich sehr das Bild von der Lebensreise. Gerade in der sommerlichen Aufbruchphase haben wir ein feines Gespür für das Mobile, Fluide, Offene, für neue Eindrücke und tiefere Kraftquellen. Eng verbunden damit ist das schöne Bild vom Menschen als Pilger: „Pilger sind wir Menschen“, wie ein Kirchenlied dichtet. Es freut mich sehr, dass der Pilger-Trend immer noch anhält, wenn auch in diesem Sommer unter etwas anderen Vorzeichen. Sicher gab es in den letzten Jahren auch einige Fehlentwicklungen beim Trendphänomen „Pilgern“, aber die Grundintention und Ahnung ist sehr stimmig. Vielleicht kann sie uns in diesem verrückten Jahr 2020 noch einmal ganz neu bewusst werden: Im Loslassen und Unterwegs-Sein kannst Du den Schatz im Acker deines Lebens finden.
Dieser Gedanke, der auch von Jesus immer wieder ins Spiel gebracht wird, markiert gut den Grundcharakter unseres Lebens und Glaubens: Glauben ist kein fester Zustand, sondern eher eine große spirituelle Reise. Und bei Jesus finden wir zentrale spirituelle Reisehinweise (z.B. in Lk 10, 1-9). Seine Wander-Mission in Galiläa steht unter den beiden Leitthemen: Unterwegs-Sein und Gastfreundschaft erfahren. Hier scheint immer wieder eine Grundwahrheit durch, die auch schon den israelischen Gottesglauben geprägt hat: Nur im Unterwegs-Sein lässt Gott sich finden, nicht für die, die sich festgesetzt haben! Gott ist Gegenwart, das ist seine Zeit, und nur für gegenwärtige Menschen zeigt sich ein neuer Weg. Dabei gehört es zum Wesen der Reise, der Wanderung, dass die Menschen immer nur von Etappe zu Etappe sehen, dass langfristige Ziele sinnlos erscheinen und zudem die Kräfte überfordern. Es gehört zur Wanderung, dass man sie nicht allein schafft, nur mit leichtem Gepäck vorankommt und eher ein Zelt aufschlägt, als ein festes Haus zu bauen.
Ebenfalls gehören Widerstände und Rückschläge zum Unterwegs-Sein. Jesus fasst diese Erfahrung in das markante Bildwort: „Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe“ (Lk 10, 3). Christen sollen sich – so Jesus – auf ein Leben als Gast einstellen, auf ein Leben mit leeren Händen, auf ein Leben, das sie nicht in allem selbst bestimmen können. Wir sind ja sonst darauf trainiert, jede Bedürftigkeit zu vermeiden, und sollte sie doch da sein, dann versuchen wir, sie zu verstecken. Das erleben wir auch in der Kirche: Man erlebt Mangel und gerät in Aktionismus. Es braucht innere Größe, sich bedürftig zu zeigen. Anderen Gastfreundschaft gewähren – darin sind wir meistens stark; aber selber wie ein Gast leben, vertrauensvoll nicht alles selber in der Hand haben wollen: das ist ein schwerer Weg. Nachfolge Jesu ist nicht nur und nicht zuerst, eine große Traditions- und Wohltätigkeitsgemeinschaft, die andere einlädt, anderen hilft und die Menschen zu sich kommen lässt. Nachfolge Jesu ist eine Aufbruchs- und Weggemeinschaft, die erst einmal nicht mit vollen Händen Geschenke verteilt, sondern mit leeren Händen offene Häuser und Herzen sucht. Dass das Reich Gottes nahe ist, wird erfahrbar, wo ich vertrauensvoll Gastfreundschaft angenommen oder wo ich einem fremdem Haus Frieden gewünscht habe.
Die sommerliche Sehnsuchts- und Reisezeit lädt ein, diese Haltung einzuüben: ein Leben als Pilger und Gast.
Nils Petrat, Dr. theol., ist katholischer Studierendenseelsorger in Paderborn. Außerdem wirkt er als Dompastor am Hohen Dom zu Paderborn.