Afghanistan: Frieden per Download?
9. Juni 2019Der Anzug des virtuellen Staatsdieners sitzt schlecht. Er soll den Wiederaufbau stemmen. Kriegstrümmer beseitigen. Für Stabilität und Wirtschaftswachstum sorgen. In der fiktiven Region Safranfeld. Auf dem Tablet-Bildschirm wirkt Safranfeld idyllisch. Es gibt zwei Flüsse, ein paar Dörfer, zerklüftete Berge.
Doch aus den zerklüfteten Bergen tauchen immer wieder bewaffnete Aufständische auf, die den staatlichen Wiederaufbau zunichte machen wollen. Sie dringen überfallartig in bereits gesicherte Gebiete in Safranfeld ein und zwingen den Staatsdiener zu teuren militärischen Aktionen.
Der Aufbau der Infrastruktur bleibt auch ohne die neuen Kämpfe weit hinter den Erwartungen der Menschen zurück. Ihre Enttäuschung stärkt die Aufständischen. Es entfaltet sich ein virtueller Teufelskreis, in den sich über vier Millionen Spieler freiwillig hineinbegeben. Die meisten Downloads bekommt die App Rebel Inc. bisher aus China und den USA. Erfunden hat sie der Strategiespielentwickler Ndemic Creations aus Bristol im Südwesten Englands.
Vorlage Afghanistan
Wo genau Safranfeld liegt, verrät das Spiel seinen Usern nicht. Aber vieles, sehr vieles, erinnert an Afghanistan. Am Hindukusch sind knapp zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes Frieden und Stabilität vage Hoffnungen geblieben. Dabei ist der Afghanistan-Einsatz die größte und teuerste Mission in der Geschichte der NATO.
Das Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) der University of Sussex hat für das Jahr 2018 mehr als 41.000 zivile und militärische Todesopfer dokumentiert. Damit war der Afghanistan-Krieg im vergangenen Jahr der mit Abstand tödlichste Konflikt - mit fast ebenso vielen gemeldeten Todesfällen wie in Syrien und Jemen zusammen.
In diesem Jahr wurden nach Angaben der Vereinten Nationen in den ersten drei Monaten zum ersten Mal mehr Zivilisten durch afghanische Sicherheitskräfte und internationale Truppen getötet als durch die Angriffe der Taliban, marodierender Milizen oder durch Terroranschläge. Wie ist das zu erklären? Im Spiel können die User selber nach Antworten suchen.
Spielerische Strategie und afghanische Realität
Der Konflikt in Afghanistan ist vier Jahrzehnte alt. Es ist kein Krieg, der mit dem Einmarsch der westlichen Koalition nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 begann.
Rebel Inc. spielt mit der afghanischen Komplexität und sorgt für Aufsehen – nicht nur bei Gamern, sondern auch bei Politikern, Soldaten, Helfern und Wissenschaftlern. Bei Menschen wie Laura Bailey. Sie ist bei der Weltbank für Frieden und Sicherheit zuständig und setzt in internen Trainings schon seit Jahren auf Simulationsspiele. An Rebel Inc. schätzt Bailey, dass die User erleben, "um wie viel schwieriger es ist, Frieden zu schaffen als Krieg zu führen."
Jede einzelne Entscheidung kann unbeabsichtigte Konsequenzen haben, an denen die ganze Mission scheitern kann. Die Weltbank-Expertin träumt davon, solche Simulationsspiele gezielt in Schulen einzusetzen: "Wenn man mit Heranwachsenden arbeitet, die in ein paar Jahren zur Wahl gehen, könnte das wirklich enorme Auswirkungen haben."
Für Spieleentwickler James Vaughan, 32 Jahre alt und Familienvater, steht der Spaß beim Erleben seines "Friedensspiels" im Vordergrund. Schließlich müssen die User für den Download 2,29 Euro bezahlen. Aus seiner Sicht besteht der Reiz darin, dass die Spieler "eine Menge konkurrierender Prioritäten in Einklang bringen müssen."
Die dunkle Seite des Geldes
So macht Rebel Inc. spielerisch die enge Beziehung zwischen Hilfsgeld, Korruption und Gewalt sichtbar. Investitionen in Schulen, Krankenhäuser und Straßen sind im Spiel zwar zentral. Doch wer zu schnell zu viel in den kriegszerrütteten Markt von Safranfeld investiert, schürt Korruption und treibt die Inflation in die Höhe. Das verärgert die Bevölkerung und schadet dem Ruf des Staates.
Der Zuspruch der Bevölkerung lässt sich im Spiel auf einer Leiste am Rand ablesen. Sinkt der eigene Ruf dort auf Null, ist das Spiel verloren. Man kann gegensteuern: mit dem Kauf teurer Anti-Korruptionsprogramme, die Richter ihre Jobs kosten können. Oder mit einer unabhängigen Aufsichtsstelle für die Vergabe von staatlichen Aufträgen. Oder mit Öffentlichkeitsarbeit. Auch für die kann man im Spiel sehr viel Geld ausgeben.
Miese Kompromisse oder game over!
"Wir leben nicht in einer Welt aus schwarz und weiß mit einfachen Lösungen", erklärt Vaughan. "In Wahrheit müssen ständig miese Kompromisse gemacht werden. Die Welt ist eher grau." Zu den wichtigsten Recherche-Quellen für sein Spiel gehören neben intensiven Gesprächen die vierteljährlichen Berichte des US-amerikanischen Special Investigators for Afghanistan Reconstruction, kurz SIGAR.
SIGAR ist die wichtigste Aufsichtsbehörde der US-Regierung für den Aufbauprozess in Afghanistan. Ihr Chef, John Sopko, bezeichnet die Korruption als "größte strategische Bedrohung für die Legitimation und den Erfolg der afghanischen Regierung." Zu einem politischen Kurswechsel haben seine Untersuchungen bisher nicht geführt.
Laut SIGAR hat der Einsatz der US-Truppen die amerikanischen Steuerzahler seit Oktober 2001 gut 750 Milliarden Dollar gekostet. In den afghanischen Wiederaufbau flossen in der gleichen Zeit über 130 Milliarden Dollar. Viel mehr, als die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg über den Marshall-Fund in den Wiederaufbau Europas investierten.
Wesentlicher Unterschied: In Afghanistan flossen knapp zwei Drittel der Wiederaufbau-Hilfe in den Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte. Dabei verschwanden Millionenbeträge , landeten bei brutalen Milizen oder auch in den Taschen der Hintermänner von Geistertruppen, die es nur auf dem Papier gab. "Wenn du die Zivilbevölkerung vernachlässigst, dann spielt es keine Rolle, wie gut du im Kampf gegen die Rebellen bist, weil dann immer mehr Rebellen nachkommen", sagt Vaughan.
In seiner Simulation verschwinden dann die roten Hämmer, die den Wiederaufbau symbolisieren. Stattdessen tauchen immer mehr Aufständische in Form roter Karos auf. Flammen fressen sich ins Safranfeld. Dann muss der User schleunigst seine bewaffneten Truppen, eigene und internationale, in Marsch setzen, damit aus einzelnen Feuern kein Flächenbrand wird.
Freund oder Feind?
Allerdings sorgt die Präsenz der ausländischen Soldaten wie im realen Afghanistan für Unmut in der Bevölkerung von Safranfeld. Zum Beispiel, wenn bei Luftangriffen Zivilisten sterben. Nach UN-Angaben wurden im ersten Quartal 2019 bei 43 Luftoperationen 145 Zivilisten getötet. 39 dieser Luftschläge wurden den internationalen Luftstreitkräften zugerechnet. Die User können im Spiel versuchen, zivile Opfer zu vertuschen – was nicht immer klappt. Sicher aber ist: Jedes Mal, wenn im Spiel der Einsatz der internationalen Truppen verlängert wird, sinkt der Ruf der Regierung.
Die afghanische Entwicklungsexpertin Orzala Nemat bestätigt, was das Spiel suggeriert: Es reicht nicht, Soldaten zu schicken, wenn man Frieden schaffen will. Der anhaltende Einfluss der Taliban beruht auch auf dem Versagen des Staates, der nicht als Schutzmacht empfunden wird. Die Menschen lebten sowohl unter den Taliban als auch unter der Regierung in Angst, sagt Nemat im Gespräch mit der DW: "Es gibt auf beiden Seiten keinen ausreichenden Zugang zu Gerechtigkeit, Gesundheit und Bildung."
Im Laufe des Jahres soll Rebel Inc. dann auch in den afghanischen Sprachen Pashtu und Dari erscheinen. Dann wird es auf User treffen, die in der Vorlage des Spiels leben.